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Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)

Titel: Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Nizon , Wend Kässens
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distanzieren von Autoren und Schöpfertypen, die meine Werte hochhalten wie Nabokov oder Malcolm Lowry oder Danilo Kiš oder Perec, die alle Revolutionäre und kulturelle Elitegeschöpfe und keine neuen Wilden sind, ich brauche mich der mir zugehörigen literarischen Domäne nicht zu schämen. Und dennoch ist mein Wertesystem immer mehr ein beinah schon dinosaurisches Relikt.
    Ich komme auf den Aspekt des Höherstehenden zu sprechen, weil mir kürzlich meine Nichte Tamara diesen Hang als eine Art familieneigenen Defekt fast zum Vorwurf machte. Die Frage ist, was es mit diesem Postulat oder Dünkel auf sich hat, weil offensichtlich sowohl meine Mutter wie meine Großmutter, obwohl beide aus bescheidenen Verhältnissen stammend und nicht sonderlich gebildet, eine entsprechende Werteausrichtung uns eintrichterten. Einen »Aristokratismus«, würde Derivière es nennen, und Ähnliches hat man mir von meinem Habitus und Auftreten her auch immer schon angekreidet. Bei meiner Schwester hat der Anspruch auf absolute Exklusivität die Züge der Überheblichkeit. Vielleicht haben die beiden Mütter eine von meinem Vater abgeleitete oder auf ihn projizierte Sonderwertstellung in krauser Weise entwickelt und hochgehalten und uns Kindern eingeimpft. Eine Fassade, hochmütige, die im Grunde auf nichts beruht und reine Behauptung bleibt (wenn nicht Genealogiefälschung). Wir wurden ja aufgezogen und abgerichtet, als seien wir Prinz und Prinzessin.
    In meinem Falle war das Auserwähltsein von frühester Zeit an sowohl Fundus und Kraftquelle wie Grund zu sozialer Absonderung und Kommunikationserschwerung. Zu Kompensationszwecken entwickelte ich ebenfalls von früh an Interesse, Neigung, ja Verbrüderungstendenzen zu Unterwelt und marginalen Erscheinungen (s. Herumtreibern und das Clochardmotiv). Und vielleicht kommt von daher die wenigstens in den Büchern zutage tretende Selbstauslöschungssucht, das Absteigermotiv – als Verbrüderungsangebot? Oder als Selbstbestrafung?
     
    In Bern, wo ich neulich vermehrt zu literarischen Auftritten Station zu nehmen verpflichtet war (die Causerie in der französischen Buchhandlung/Café littéraire von Stauffacher und das Gespräch über das Lieblingsbuch, in meinem Falle Unter dem Vulkan von Lowry, in der Kornhausbibliothek), immer stärker Verdruß empfunden, wenn ich in Länggasse und Altstadt auf frühen bzw. Kindheitspfaden unterwegs war. Verdruß angesichts der Armseligkeit des damaligen Augenfutters – eine gewisse Häßlichkeit ist evident zumal in der Länggasse – und der Vermessenheit der mit diesem spärlichen Erbmaterial unternommenen Seelenaufschwünge. Die Frage ist, woher das Bedürfnis nach Schönheit und seelischem Aufschwung als Überlebenselixier in mich eingepflanzt war: der innere Befehl im Sinne von »ich lasse dich nicht, du segnetest mich denn«. Statt Reparatur kann ich Korrektur sagen. Es war ja nicht einfach ein lügnerisches Verschönen und Ausschönen, es war ein Abverlangen. Das Armseligkeitsunglück, das Verdürsten war echte Not, aber ebenso das Darüberhinausverlangen. In diesem Sinne kann und muß ich den Einwand meiner Schwester, unsere Kindheit sei keineswegs so himmeltraurig gewesen wie in meinem Haus -Buch dargestellt, widerlegen. Für mich war das Gegebene niederschmetternd, wenn nicht bedrohend, das fehlende Glück, das Entbehren, die Graue-Socken-Wirklichkeit, die mehr als nur Bescheidenheit des Angebots. Es war das Erlebnis früher Lebensenttäuschung und der Sodbrunnen drohender Depression. Und daraus Schönheit schlagen. Dieses frühkindliche Kreuzrittertum spüre ich, wenn ich die alten ausgetretenen Pfade betrete, die ich mit heutigen Augen nur als Ausgeburt der Trostlosigkeit erklären kann; und es ist das damalige tiefe Unglück, was mich verdrießt. Es will mir scheinen, als wäre ich in trister Lagerhaft aufgewachsen und hätte aus Überlebenshoffnung immer nur an Ausbruch gedacht – oder mich an Einbildungen geklammert. Alles umträumen ins Schöne, Abenteuerliche, Erregende, in Hoffnungswürdigkeit. Darin lag die Revolte des Kleinen: das Nicht-wahrhaben-Wollen. Der Quell des Dichterischen?
     
    Und nun zurück zu Salve Maria .
    Ich möchte mit diesem Buch das Klima eines antiken Grabreliefs erschaffen. Immer stärker beschäftigt mich die Antike, wenn sie auch nur luftlinienförmig meine Gedanken durchzieht. Beim Grabrelief ist es die zauberhaft andächtige Evokation der Lebenden – wie in einer Verbannung. Sie sind nahe und nicht mehr

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