Urkundenfälschung: Journal 2000-2010 (German Edition)
erreichbar. Um so heftiger entsteht im Betrachter die Sehnsucht, um so stärker ist der Appell aus dem nahen Jenseits, das nichts mit dem christlichen Jenseits zu tun hat, weil es lebensvoll, ja blutvoll und schön und dennoch unerreichbar ist. Mit dem Maria-Stoff möchte ich diese Sehnsucht mitten im Leben nach dem Unerreichbaren darstellen oder in Sprache bringen. Es ist ein Moment in der Initiation eines jungen Mannes, der einer jungen Frau in liebender Bewunderung gleichsam sinnlos nahekommt und dabei die Unerreichbarkeit als das Jenseits erfährt. In dem Grenzbereich sind Entflammtsein und Enttäuschung eins, es ist der Einbruch oder doch das Durchscheinen des Todes und der Ewigkeit – die Vergeblichkeit. Es wäre ein Buch über den fürchterlichen Einbruch der Illusion – und damit der Haltlosigkeit, Fragwürdigkeit, Brüchigkeit der Wirklichkeit.
3. Mai 2000, Paris
Ich lese Handkes Wiederholung und bin sowohl beeindruckt oder voller Staunen wie auch befremdet bis abgestoßen. Das Befremden rührt von der fast autistischen oder Kaspar-Hauserschen Optik, schlecht ausgedrückt, her; es ist die Optik eines Ausgestoßenen, Stummen (hintergründig Gewalttätigen), und die Bewegung ist ein Lernprozeß, wenn nicht Erziehungsprogramm, das Lernen geht über das Anschauen, das Grundmuster sind die Lehr- und Wanderjahre, ist der Bildungsroman, und die Wucht, sowohl Bild- wie Sprachwucht, rührt von der Erpressung her, denn das erzählende Subjekt ist ja ein von seiner Umgebung gefährlich erpreßtes, wenn nicht gestauchtes (eben Kaspar Hausersches) sprachloses Wesen, aus der anfänglichen Sprachbenommenheit stammt die latente Gewalttätigkeit. Das Sehprogramm, das ein Lernprogramm und fast pfingstwunderlich zu einem Sprachvermögen-Kommen heißen darf, hat nicht nur Authentizität, sondern fast biblische Kraft. Der Protagonist sucht nach einer Ordnung, Weltordnung im Grunde, also nach einem Heil. Als Vergleich (mit Ausnahme der immanenten Verkündigungssehnsucht) käme am ehesten Anton Reiser in Frage.
Was uns verbindet, ist das Sehenlernen, nur daß in mir die Suche nicht einer uralten versunkenen oder verlorenen Ordnung gilt, sondern dem Innewerden der Gegenwart und der daraus hervorgehenden schöpferischen Bereitschaft.
Wenn ich sage, daß ich am Morgen beim Hinausgehen oder Tagbegrüßen immer noch wie ein Kind voller Wundererwartung einhergehe, oder wenn ich von der Augenweide spreche, dann ist bei mir Sehen, Einsammeln über Augenwege immer gleichbedeutend mit dem inneren Sprudeln, mit Schöpferischwerden oder eben mit Sagenslust. SPRACHLUST. Während es bei Handke nicht um das Sprudeln, sondern das Erzählen geht. Und mit dem Erzählen ist die Hinwendung zum Anderen da und damit die Lehre, Erzählen als Gemeinschaft-Erschaffen. WEG gleich Lehre. Die Lehre der Sainte-Victoire etc. Sein Erzählen ist gemeinschaftsbildend oder Einladung zur Nachfolge. Hier Handkes Guruhaftigkeit. Hier unser zentraler Unterschied. In diesem Sinne zeigt seine Wiederholung , wie das Anheben des inneren Erzählens zu einer Wiedererlangung verlorener Gemeinschaft hinführt. Während es in meinem Jahr der Liebe die Demonstration der Welterschaffung und Selbsterschaffung ex nihilo oder eben die Reanimation aus den drohenden Strudeln der Depression ist. Das Buch, das sich selber schreibt und Selbstrettung wird.
Bei mir spielt das Kunstwerk oder der Glaube an das Kunstwerk als Lebensquell und Unzerstörbares die Animusrolle, bei Handke ist es das Wegsuchen. Mit Odile habe ich immer den einen Streitpunkt: Sie kann nicht verstehen, denke ich, was mich das Kunstwerden meiner Stoffe kostet. Nur der künstlerische Rang ist der Sieg über das Nichts, nur dieses Schöpfungswunder. Darum mein scheinbarer Elitismus. Es besteht ein abgrundtiefer Unterschied zwischen guten interessanten gutgeschriebenen Büchern oder anderen sog. künstlerischen Produkten und dem Kunstwerk, und Solidarität erwarte ich mir einzig auf dieser exklusiven Ebene. Auch Hilfe.
Der Kunstanspruch ist für mich das Entscheidende. Der Kunstbegriff meint das totale Aufgehen von Stoff in künstlerischer Sprache, in Handschrift oder Stil und bedeutet im Unterschied zum billigen Verbrauchsgegenstand nicht weniger als das ewige Leben. Kunst – diese leichte Sache, die so schwer zu machen ist (Utz).
Dieses Umwandeln in einen atmenden souveränen alles enthaltenden geheimnisvollen unzerstörbaren schwingenden schweigenden Organismus, abgelösten sieghaften Organismus, also
Weitere Kostenlose Bücher