Vaclav und Lena
Vaclav.
»Wasch dir deine Hände und komm zum Abendessen«, sagt sie. »Du auch, Lena.«
Rasia steht in der Tür, als Vaclav und Lena in die Küche zum Essen gehen. Aber es ist nicht das Essen, wonach sie sich sehnen.
|23| Das Abendessen
Die Küche in Vaclavs Zuhause ist sehr warm, und die Luft ist schwer. Wenn man die Luft durch die Nase einatmet, kommt es einem so vor, als schlürfe man einen Milchshake durch einen Strohhalm. Sobald Lena in der Küche steht, hat sie das Gefühl, satt zu sein, es ist, als ob der Geruch ihren Bauch bis oben hin anfüllte. Daheim bei Vaclav ist Abendessen immer so. Allein der Geruch reicht, man braucht nichts zu essen.
»Was gibt es?«, fragt Vaclav.
»Soll Witz sein?«, fragt Rasia, weil es nicht sein kann, dass ihr Sohn nicht weiß, was es zum Abendessen gibt. Das Haus ist schon so erfüllt vom Geruch nach Borschtsch, dass man glaubt, die Luft müsse leicht lilarot gefärbt sein und der Borschtsch müsse sich an der Decke und an den Wänden und an den Fensterscheiben niederschlagen.
Lena öffnet eine Schublade neben dem Herd, genau dort, wo Rasias breiter Hintern beim Umrühren des Borschtsch mitschwingt. Sie nimmt vier Gabeln heraus und vier Löffel. Sie gibt jedem insgeheim Namen, damit sie sicher ist, für jeden von ihnen einen Löffel zu haben. Mutter-Löffel, Vater-Löffel, Vaclav-Löffel, Ich-Löffel. Sie sagt »Mutter« und »Vater« im Geiste, meint aber die Mutter-von-Vaclav und den Vater-von-Vaclav. Das ist nicht verwirrend für sie, weil sie in ihrem Kopf nie die Mutter-von-Vaclav mit der Mutter-von-Lena verwechseln würde. Als Lena ihre Mutter zuletzt gesehen hat, war sie viel zu klein, um sich noch an sie erinnern zu können.
Die Gedanken an ihre eigene Mutter unterscheiden sich |24| völlig von den Gedanken an Rasia. Rasia hat einen Geruch wie starkes Parfum. Sie ist eine dicke Frau mit einem mächtigen Hinterteil, die ausgeblichene, abgetragene Kleider und an den Füßen Lederlatschen trägt, die eine stark riechende Suppe kocht, in der sie rührt, und die Stühle ächzen lässt, wenn sie sich darauf setzt. Lenas Mutter ist eine Vorstellung. Lenas Mutter ist ein Geheimnis.
Lena legt das Besteck hin und setzt sich auf den Platz neben Vaclav, wo sie immer sitzt, gegenüber seinem Vater, neben Rasia.
Vaclav erledigt rasch seine Aufgabe, die Servietten hinzulegen und vor jeden Teller ein Wasserglas zu stellen.
Lena setzt sich, während Vaclav ihr Glas als erstes füllt, dann Rasias, dann sein eigenes. Sie schaut zu, wie Vaclav Olegs Glas mit Wodka füllt.
Vaclav und Oleg setzen sich als Nächste. Vaclav ruhig, Oleg mit einem tiefen, peinlichen Stöhnen. Rasia setzt sich noch nicht hin, sie bleibt stehen, bis sie jedem Borschtsch mit Fleisch serviert hat, und dann erst setzt sie sich.
Beim Austeilen hält Rasia den Borschtschtopf so an ihrer Seite, dass die dunkle Achselhöhle darüber zu sehen ist. Sie stellt den Topf mit einem Rums auf den katzenförmigen Eisenuntersatz, dann taucht sie die Schöpfkelle in den Borschtsch und fährt sie zurück wie einen Kolben. Die Kelle ist weiß mit braunen Flecken. Der Borschtsch hat dieselbe Farbe wie der Teppich in der Schulbibliothek, denkt Lena. Rasia füllt den Suppenteller ihres Mannes. Der Borschtsch hat die Farbe von Blumen. Rasia taucht die Kelle wieder und wieder in die Suppe und gibt Vaclav. Der Borschtsch hat die Farbe eines Kleides, wie eine Königin es tragen könnte. Der Borschtsch fließt in |25| Lenas Suppenteller. Der Borschtsch hat die Farbe von Blut. Der Borschtsch hat die Farbe von Blut, worin nicht Fleischstücke schwimmen, sondern Leberflecken, die von Rasias Doppel-Doppelkinn abgefallen sind. Sobald Lenas Gedanken diese Richtung genommen haben, kann sie nicht mehr zurück.
Rasia setzt sich schwerfällig auf den Stuhl. Sie legt sich ihren mächtigen Bauch über dem Bund ihrer Strumpfhose zurecht. Sie hält den Löffel über ihrem Suppenteller und senkt den Kopf, aber bevor sie die Suppe schöpft, wirft sie einen kurzen Blick auf Lena. Die Luft in der Küche ist feucht und dick. Lena atmet bei jedem Atemzug Borschtsch ein, den Schweißfleck zwischen Rasias Bauchfalten, den Hauch aus Olegs schwarzen Backenzähnen, die Teilchen von den Leberflecken, die in der Suppe schwimmen.
»Iss, Lena, iss!« Rasia ist ganz auf Lena konzentriert. Lena senkt den Löffel in den Borschtsch. Sie hantiert mit dem Löffel so, dass sie möglichst Suppe ohne Leberflecken erwischt.
»Wo ist das Problem? Brauchst du eine
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