Vaethyr - Die andere Welt
auf ihren neunten Geburtstag folgte. Matthew war mit blauen Flecken und voller Blut nach Hause gekommen, das Gesicht geschwollen, die Knöchel aufgeschürft. Er sei vom Fahrrad gefallen, lautete die Geschichte, die er einsilbig seinen Eltern auftischte. Später hatte Rosie ihn in einem Winkel des Rosengartens aufgespürt, wo er hinter dem gefrorenen Skelett einer Hecke kauerte. »Hat Sam dir das angetan?«, fragte sie misstrauisch.
Sein Gesicht war versteinert, die Augen von Wuttränen gerötet. »Lass mich in Ruhe, Rose.«
»O Matt, ich hab dir doch gesagt, du sollst es lassen!«
»Zieh Leine!«, knurrte er. »Ich bin ihm auf der Straße begegnet. Ich wollte, dass er deine Halskette rausrückt. Er lachte. Wir kämpften. Ende der Geschichte.«
Sie wusste natürlich, dass Matthew, hätte er obsiegt, trotz seiner Verletzungen herumstolziert wäre. Und auch, dass alles, was sie jetzt sagte – ob wütend oder mitfühlend –, sein Elend nur noch verstärken würde. Seine Haltung verriet ihn: äußerste qualvolle Demütigung. »Komm rein, es ist eiskalt«, sagte sie. »Ich werde es keinem erzählen.«
»Ich hole sie für dich zurück«, knurrte er und wand sich dabei vor Schmerzen. Und ergänzte dann mit einem Schwall unterdrückter Wut: »Du hältst dich fern von ihm, Ro. Er ist verrückt.«
Fünf Jahre lagen diese Ereignisse nun zurück. Rosie war inzwischen vierzehn, Matthew neunzehn. Im Rückblick schien sich etwa um diese Zeit eine Veränderung vollzogen zu haben; sie erinnerte sich, ihre Eltern bedrückt und geistesabwesend erlebt und das Kommen und Gehen von ernst dreinblickenden Elfenwesen verfolgt zu haben, sogar einen Streit, den Onkel Comyn mit ihrem Vater austrug … Nie erzählten sie, worum es dabei ging. Es war vorbei, aberdennoch war für sie diese Erinnerung mit dem geisterhaften, abweisenden Stonegate verbunden.
Und dann kam die Einladung.
Rosie saß in ihrer Partykleidung im Wohnzimmer. Sie hielt die längliche cremefarbene Karte zwischen ihren Fingerspitzen und las zum zehnten Mal, was dort in geschwungener Kursivschrift stand.
An Auberon und Jessica, Rosie, Matthew und Lucas.
Lawrence und Sapphire Wilder bitten um das Vergnügen eurer Gesellschaft auf Stonegate Manor für eine Julzeit-Maskerade.
Datum: Samstag, 17. Dezember
Zeit: 20:00 Uhr
Kleidung: festlich. Verkleidung erwünscht, kein Maskenzwang.
Bringt eure Freunde mit, jeder ist willkommen!
Die Einladung wurde auf der Rückseite durch eine handschriftliche Notiz ergänzt.
»Bitte kommt! L. meint, ihr hättet euch schon zu lange nicht mehr gesehen, und ich kann es kaum erwarten, euch alle kennenzulernen. Es wird ganz leger zugehen und wir werden viel Spaß haben. Lasst uns eine festliche Tradition begründen!
Herzliche Grüße, Sapphire.«
»Ich finde es noch immer merkwürdig«, sagte Rosie. »Da sprecht ihr seit Jahren nicht miteinander und dann laden sie uns zu einer Party ein?«
»Was merkwürdig ist, sind die Worte Spaß und daneben Stonegate Manor .« Matthew lehnte im Türrahmen, sein blondes Haar hing ihm weich in die Stirn. »Hoffentlich haben sie helles Bier. Ich werde nichts trinken, worauf irgendwelches Fruchtzeug schwimmt.«
»Gott bewahre, dass sich irgendeine Frucht zwischen deine Lippen verirren möge, Matt«, sagte Jessica. Sie stand vor dem Kaminspiegel und versuchte ihr widerspenstiges Haar aufzustecken, steckte Haarnadeln hinein, nur um sie ungeduldig gleich wieder herauszuziehen. »Ich fände es schlimm, wenn sich ein Vitamin als trojanisches Pferdin Form von Alkohol in dich einschleichen würde. Autsch. Oh, so ein Mist.«
»Hör auf, damit herumzumachen, Mum«, sagte Rosie. »Warum trägst du sie nicht offen?«
»Weil ich nicht möchte, dass die neue Lady des Herrenhauses mich für eine Hippieschickse hält.«
»Aber du bist eine Hippieschickse«, sagte Rosie kichernd.
»Du bist fürchterlich, Rosie.« Aber dabei umspielte ein Lächeln ihre Lippen und sie reichte Rosie den Kamm. »Matthew, achte bitte darauf, dass dieses Kind heute Abend nichts Stärkeres als Gin trinkt.«
Er verdrehte die Augen. »Oh, ich werde schon auf sie aufpassen«, erwiderte er drohend. Es war ein seltener Anblick, ihn ohne sein Rugby-Hemd zu sehen, und in seinem Anzug sah er aus wie ein eleganter, verzogener Erstsemesterstudent. »Fahren wir hoch?«
»Also, ich habe nicht vor, auf diesen Absätzen den Berg hochzulaufen. Werden deine Freundinnen kommen, Rosie?«
»Mel und Faith, hoffe ich. Na also«, sagte Rosie, endlich
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