Dein Blick so kalt
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Lou knüllte die Zeitung zusammen und stopfte sie in die Kiste mit Altpapier. Wenn Mam das lesen würde – bei dieser Vorstellung verdrehten sich ihre Augen ganz von selbst. Sie konnte die Predigt schon hören. Hast du das gelesen? Eine Siebzehnjährige! So alt wie du. Du bleibst hier. Schluss. Aus. Basta. München ist kein Pflaster für dich.
Werden wir ja sehen, dachte Lou und ging nach oben in ihr Zimmer. Die Sonne schien zum offenen Fenster herein. Im Nachbargarten mähte Tobias den Rasen. Gestern, bei der feierlichen Zeugnisverleihung in der Aula der Realschule, hatten sie nebeneinandergestanden. Er, dem Anlass angemessen in Anzug und Krawatte, wie alle Jungs, während alle Mädchen Abendkleider trugen, als wären sie beim Opernball. Alle? Lou musste grinsen. Zum Entsetzen ihrer Eltern hatte sie sich auf der Schultoilette aus dem lila Abendkleid geschält, das Mam ihr verpasst hatte, und das Outfit angezogen, das sie sich eigens für diesen feierlichen Anlass besorgt hatte. Petrolfarbene Satinshorts. Mit Bundfalten! Eine helle Waschlederbluse mit Fransen, original von 1968, dazu ein besticktes Stirnband, das ihre dunkle Mähne in Form hielt. Die war entstanden, nachdem sie der Hochsteckfrisur den Garaus gemacht hatte. Das alles hatte sie secondhand im Netz gekauft, auch die passenden Mokassins in Pink. Mam war beinahe in Ohnmacht gefallen, als sie in diesem Aufzug von der Toilette zurückkam. Alle anderen hatten sie halb irritiert, halb bewundernd angeschaut. Eigentlich hätte ich doch noch Omas Fuchsstola umlegen sollen, dachte Lou. Das wäre die Krönung gewesen. Allerdings hatte sie es nicht über sich gebracht, ein totes Tier anzuziehen.
Sie winkte Tobias zu und setzte sich an ihren Schreibtisch. Das MacBook befand sich im Ruhemodus. Mindestens zehn Millionen Zeitungen hatte sie ausgetragen, bis sie das Geld dafür zusammengehabt hatte. Ein Stups auf das Trackpad und der Monitor wurde hell.
Natürlich würde sie nach München gehen und dort eine Ausbildung als Mediengestalterin machen. In der niederbayerischen Provinzmetropole Straubing würde sie jedenfalls nicht versauern wie ihre Eltern, die ihre verbeamteten Leben zwischen Vermessungs- und Einwohnermeldeamt zerrinnen ließen. Die einzigen Highlights des Jahres waren für die beiden eine dreiwöchige Pauschalreise auf die Kanarischen Inseln oder Mallorca und das Sommerturnier des Tennisvereins, bei dem sie Gründungsmitglieder waren und Pa seit zehn Jahren auch Vorstand. Ach ja und dann gab es ja noch das Gäubodenfest. Wiesn für Provinzler.
Im Reiheneckhaus der Familie Meerbusch war es ruhig. Pa arbeitete noch. Mam war zum Supermarkt gefahren, um den Wochenendeinkauf zu machen. Sicher kam sie wieder mit einem vollgepackten Wagen zurück, als könnte demnächst eine Hungersnot ausbrechen.
Lou ging online, wünschte sich Glück und durchsuchte die Portale. Tatsächlich fand sie drei neue Lehrstellenangebote für Mediengestalter in München und Umgebung. Das erste kam von einer Druckerei. Nicht unbedingt das, was sie sich vorstellte. Das zweite stammte von einem Verlag, der medizinische Fachzeitschriften herausgab. Klang schon besser. Und das dritte war von einer Werbeagentur. Genau das, was Lou suchte.
Da sie allerdings nicht wählerisch sein konnte – Lehrstellen für Mediengestalter waren beinahe so rar wie Mädchen, die nicht im Abendkleid zur Schulabschlussfeier gingen –, passte sie ihr Bewerbungsschreiben für alle drei an und druckte sie aus, zusammen mit Lebenslauf, Zeugniskopien und den Arbeitsproben, die sie vorzuweisen hatte. Viele waren es nicht. Zwei Ausgaben der Schülerzeitung Ratzfatz, die sie gestaltet hatte, dann noch das Logo für den Blumenladen von Caros Mutter und ein paar Screens ihrer Website Veggie-Bürger, auf der sie regelmäßig eigene vegetarische Rezepte vorstellte. Ihre neueste Kreation, rote Linsen mit gebratener Banane, Ingwer und Kerbel, fand tolle Resonanz unter ihren Freunden im Netz.
Wo waren die großen Kuverts abgeblieben? Lou suchte im Chaos auf ihrem Tisch, fand sie unter einem Skizzenblock, schob die Bewerbungsunterlagen hinein und machte sich auf den Weg zur Post.
Es war heiß. Die Sonne knallte. Am blauen Himmel klebten ein paar verlorene Wölkchen wie Wattebäusche. Vielleicht konnte sie nachher noch an die Donau zum Baden gehen. Sicher würde sie dort Caro treffen und Tobias und noch ein paar aus ihrer Klasse. Aus ihrer seit gestern ehemaligen Klasse, korrigierte sie sich. Für einen Moment
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