Vampirzorn
denjenigen, die du kennst, bist du bei Weitem nicht der Größte. Und unter denjenigen, von denen du nicht die geringste Ahnung hast, bist du nur ein ganz kleines Licht! Also mach’, dass du wegkommst, solange du noch dazu in der Lage bist ...
Was? Führte er etwa schon wieder Selbstgespräche? War das schon wieder jener Traum, den er in letzter Zeit ständig hatte? Nicht sein Gewissen, das nicht, sondern schlicht und einfach Schuldgefühle. Wenn hier jemand jemanden verfolgte und anderen Furcht einjagte, dann doch er! Mit einem Achselzucken tat er das Gefühl ab, beobachtet zu werden. Und warnende Stimmen gab es ebenfalls nicht.
Nicht weit entfernt spürte das hinter dem Kamm des Geröllsattels kauernde Wesen, dass er ihr ... Angebot, ihre ... Ermahnung ... ausschlug, spürte die Entschlossenheit jener menschlichen Bestie. Er wollte es tatsächlich zu Ende bringen. So sei es! Er tat es aus eigenem, freiem Willen.
Jenseits des Hügels war die schmale, vereiste Straße nur noch ein dunkles, sechzig Zentimeter tief aus dem Schnee gefrästes Band. Der Schneepflug, der die Zufahrt zu den Dörfern der Umgebung frei hielt, war erst vor zwei Stunden hier durchgekommen. Seither hatte es wieder geschneit und der Asphalt sah aus wie mit Puderzucker überzogen. Darunter glitzerte das Glatteis. In dieser Gegend war das nicht ungewöhnlich. Erst bei wesentlich strengeren Wetterbedingungen wurden die Straßen komplett gesperrt. Außerdem handelte es sich ja ohnehin nur um die Zufahrtsstraße zu einem Weiler. Die Bundesstraße, die Perth im Norden und Dunfermline und Edinburgh im Süden miteinander verband, lag gut zweieinhalb Kilometer entfernt hinter einem Pass in den Ochil-Bergen.
Das winzige Dörfchen, Small Auchterbecky, lag in einem Tal am Rand der Ochils, und dies war der einzige Weg, der hineinführte. Er endete abrupt vor einem hölzernen Steg über den momentan zugefrorenen Bach. Wo die Straße aufhörte, diente ein geteertes Viereck als Wendehammer für Fahrzeuge und zugleich als öffentlicher Parkplatz. Unter ihren dicken Schneehauben waren die Umrisse der dort abgestellten Autos, drei an der Zahl – mehr gab es in Small Auchterbecky nicht –, nur schwer auszumachen. Sie wirkten eher wie die geduckten Schemen von in der sibirischen Tundra erstarrten Mammuts.
Für einen kurzen Augenblick verwandelte sich der unter der frisch gefallenen Schneeschicht liegende, graue Parkplatz in schimmerndes Weiß, als das Licht des Vollmonds durch die dunkle Wolkendecke brach. Nur einen Moment lang, dann war es vorbei – ein flüchtiges Trugbild der bleiernen, schneegefüllten Wolken, die das Zyklopenauge für einen Lidschlag enthüllten –, und doch wirkte das Wesen mit einem Mal wie elektrisiert. Vom vollen Rund des Mondes magisch angezogen, richtete sich das Fell auf ihrem Rücken auf und in ihrer Kehle erschwoll ein Laut, den sie nur mit Mühe zu unterdrücken vermochte. Gleichzeitig jedoch wuchs in ihrem Innern ein unbändiges Verlangen.
Immer größer wurde der blutrote Kern ihrer Augen und verdrängte das tierhafte Gelb darin; Speichel troff von ihren Lippen. Ihr Maul zuckte. Sie wandte den Kopf. Von dem wieder fest verschlossenen Himmelsgewölbe ruckte er zu der Ausbuchtung im Schnee, die den Bau des Mannes markierte, zurück. Nun konzentrierte sich ihre Aufmerksamkeit voll und ganz auf die Höhle der Bestie – des menschlichen Ungeheuers –, das dort im rötlichen Schein seiner Taschenlampe über einer aus einem Herrenmagazin herausgerissenen Pornoseite masturbierend auf dem Rücken lag. Das Wesen roch sein Geschlecht, vernahm das Pochen seines Herzens und spürte, wie das Blut in ihm raste. Doch dies war bei Weitem noch nicht der Höhepunkt, der sollte erst noch kommen, der letzte Akt, wenn er sich ... bereit machte . Denn nun war alles so, wie er es haben wollte, und das Raubtier war bereit zuzuschlagen. Nur eines fehlte noch – das Opfer! Und das war bereits unterwegs.
Ein letztes Mal musste das Wesen sich noch zusammennehmen; denn dies einfach so zuzulassen – dieser Sache auch noch Vorschub zu leisten, und sei es auch nur, indem sie nicht eingriff –, könnte auf lange Sicht bedeuten, dass sie auch sich selbst in Gefahr brachte. Ja, unter anderen Umständen hätte man den Mann durchaus als ihren Verbündeten betrachten können. Aber nicht, wenn er eine der ihren bedrohte! Darum sandte sie:
Du bist dabei, einen Fehler zu begehen! Damit begibst du dich in große Gefahr!
Doch der Mann hörte es nicht, so
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