Van Helsing
formell und wirkte entfernt militärisch, in einem Stil, den Victor noch nie zuvor gesehen hatte. Am ungewöhnlichsten waren seine Haare, die lang, dunkel und aus dem Gesicht gekämmt waren. Das vielleicht Seltsamste an ihm aber war der einzelne Ring, den er am linken Ohr trug – ein kleiner goldener Reif. Der Graf war zweifellos ein Adeliger, aber Victor war noch nie einem Aristokraten begegnet, der einen Ohrring trug.
Die Gesichtszüge des Grafen waren markant, mit vorstehenden Wangenknochen, das Haar pechschwarz. Wenn Victor in die Verlegenheit gekommen wäre, raten zu müssen, er hätte den Mann auf etwa dreißig geschätzt, nur wenig älter als sich selbst. Sein Gast sah wie ein Mann in der Blüte seiner Jugend aus, aber da war etwas Merkwürdiges an seinen Augen, die älter wirkten als sein Gesicht – viel älter. Sein Blick war funkelnd, durchdringend und ... warm? Nein, nur sehr interessiert an ihm. Nach ein paar Momenten dämmerte Victor, dass er den Grafen anstarrte. Er schüttelte den Kopf – wie unhöflich von ihm.
»Graf Dracula, nehme ich an«, sagte er und streckte die Hand aus.
Der Mann nickte knapp und erwiderte: »Ja, Dr. Frankenstein. Es ist mir ein großes Vergnügen, Sie kennen zu lernen.«
»Warum warten Sie draußen?«, fragte Victor.
»Ich würde es nicht wagen, ohne eine Einladung des Hausherrn einzutreten. Vor allem zu dieser ungebührlichen Stunde«, sagte Dracula mit einem kurzen Blick zu Gerald. Victor hatte irgendwie das Gefühl, dass Graf Dracula ihr Gespräch mitgehört hatte, aber das war natürlich unmöglich. Gerald schien die Aufmerksamkeit des Grafen nervös zu machen. Sein Butler diente der Familie, seit Victor ein Junge gewesen war, doch noch nie zuvor hatte er den Mann so unbehaglich erlebt.
»Bitte, kommen Sie herein«, sagte Victor.
Dracula trat über die Schwelle, und Victor fröstelte plötzlich, schrieb dies aber dem kühlen Nachtwind zu. »Brandy?«, bot er an.
»Ja, danke.«
»Gerald, wir nehmen ihn in der Bibliothek ein.« Victor führte den Grafen zu den bequemen Sesseln vor dem Kamin, wo sie von den vielen Büchern seiner Familie umgeben waren.
»Meine Ankunft ist für Sie zweifellos eine Überraschung. Ich entschuldige mich dafür und für die späte Stunde.«
Victor versuchte vergeblich, den Akzent des Grafen einzuordnen. Sein Rumänisch war fließend, seine Aussprache allerdings eigenartig ... »Nicht weiter wichtig«, sagte er.
»Ich habe Ihnen vor einiger Zeit geschrieben und meinen Besuch angekündigt«, fuhr der Graf fort.
»Ich war auf Reisen und habe Ihren Brief wohl noch nicht geöffnet«, erwiderte Victor. Dann kam Gerald mit dem Brandy herein.
Victor hob sein Glas. »Zum Wohl.«
Der Graf erwiderte die Geste, stellte das Glas jedoch ohne zu trinken ab. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber vielleicht später.«
Victor fand dieses Benehmen seltsam, doch nicht seltsamer als die Tatsache, dass ein Aristokrat nach zehn Uhr abends an seiner Tür aufgetaucht war. »Was kann ich für Sie tun, Graf Dracula?«
Der Graf lächelte, aber die Geste war ohne Freude und erreichte nicht seine Augen – Augen, die sich jetzt in Victors bohrten, so durchdringend, dass er es fast beängstigend fand. Das Gefühl verging, und Victor dämmerte, dass er töricht war. Der Graf war nur höflich gewesen, und außerdem war er sein Gast.
»Ich bin sehr an Ihrer Arbeit interessiert. Ich habe von Ihrem Vortrag an der Universität erfahren und mir eine Kopie Ihres Antrags auf das Goldstadt-Forschungsstipendium besorgen können. Ich fand Ihre Theorien äußerst inspirierend.«
Victor starrte seinen Gast ausdruckslos an und suchte nach einem Zeichen von Ironie oder Spott. Er fand keines, sah nichts anderes als Aufrichtigkeit. Bis jetzt waren es einzig Journalisten gewesen, die sich für Victors Arbeit interessiert hatten – und ihn lächerlich machen wollten.
»Ich meine es völlig ernst, das kann ich Ihnen versichern«, fuhr der Graf fort, als würde er seine Gedanken lesen. »Ich habe schon von Zeit zu Zeit wissenschaftliche Forschungen unterstützt. Ich bin hier, um mit Ihnen über Fördergelder zu sprechen. Ich denke, Ihre Arbeit könnte sich als sehr wichtig erweisen. Ich verfüge über bedeutende Mittel und denke seit einiger Zeit darüber nach, was ich der Welt hinterlassen kann.«
Sein Blick traf Victor mit einer Intensität, die diesen nervös machte und gleichzeitig mit Erregung erfüllte.
»Sicherlich haben Sie als Arzt die enormen potenziellen
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