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Variationen zu Emily

Variationen zu Emily

Titel: Variationen zu Emily Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jürgen Saarmann
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er wollte diese hinreißende kleine Frau eigentlich noch nicht verlieren. Tagelang hatte er sich damit herumgequält, eine solide Entschuldigung oder wenigstens eine plausible Ausrede zu finden.
    Jede davon erschien ihm als zu lächerlich oder aber zu demütigend. Als er schließlich be i ihr anrief, teilte er mit, dass er unter einer seltenen, chronischen Tropenkrankheit litt, die zu unvorhersehbaren Ausbrüchen von Heiterkeit führte – ein wenig überzeugender Kompromiss zwischen „Vergib mir!“ und „Das musst du schon hinnehmen, wenn du mich willst“. Ihre Reaktion war weniger lau. Sie sagte: „Verpiss dich, du Sau!“ und legte auf. Kalt und entschieden, wie er sie noch nie erlebt hatte. Und mit einem zarten Timbre in der Stimme.
    Als er jetzt im Badezimmerspiegel sein Gesicht betrachtete, konnte er ihre Entscheidung leicht nachvollziehen. Was zum Teufel hatte sie nur an ihm gefunden? Er war zu dick, zu wenig erfolgreich, zu wenig vermögend, zu wenig Filmstar. Was hatte er bislang aus seinem Leben gemacht? Kein großes Auto, kein Fünfzehnzimmerhaus, kein Pool im Garten, keine schwellende Muskulatur. Anstattdessen ein paar ehemalige Geliebte, ein langweiliges Studium, ein mittelmäßig bezahlter und nicht unbedingt zukunftsträchtiger Job bei der Lokalpresse, keine Ersparnisse. Ein paar Dutzend Fotos, Tagebucheintragungen über einige müßige Jahre hinweg, Briefe von ehemaligen Bettgefährtinnen. Das war das wenig erbauliche Resultat von nun fast vierzig Jahren Lebenszeit. Nicht ausreichend für ein richtiges Epitaph.
    Der Geschmack der neuen Zahnpasta erinnerte ihn an das gummiartige, klebrige Zeug, mit dem man die Fugen in Bädern abdichtet. Silikon, fiel ihm ein. Während die Miniaturbürste in seinem Mund für Ordnung sorgte, fiel sein Blick auf einen kleinen, dunkelblauen Frauenslip, der neben der Dusche auf dem Boden lag. War sie denn ohne gegangen? Oder hatte sie immer mehrere in Reserve, um wirkungsvoll den einen von sich werfen zu können, während sie in der Handtasche bereits den Nachfolger bereithielt?
    Wie klein dieses Ding war! Dabei war Martha durchaus keine knabenhafte Erscheinung. Wie passte diese Fülle schönen, nachgiebigen Fleisches in diese Handvoll Stoff? Er sann, den medizinisch schmeckenden Schaum im Mund und die Bürste immer in der zahnärztlich empfohlenen kreisenden Bewegung, eine Weile über dieses Paradoxon der Größen nach. Dann fand er zwei Lösungen. Das kleine Ding bedeckte nicht alles, sondern ließ einen Teil der weichen Rundungen frei, ein Effekt, der ihn im Schwimmbad zu einem entzückten Verfolger spärlich bekleideter junger Frauen machte. Und: Eines Morgens schlüpfte Martha aus einem spontanen Einfall heraus in eine seiner Jeans. Urplötzlich war eine Art Elefantenmensch entstanden. Ihr schlanker Oberkörper ging in einen fassartigen Unterleib über, der in den großkalibrigen Kanonenrohren eines Schlachtschiffes endete. Ihr süßer Hintern war tatsächlich eine ungemein zierlichere Untermenge dessen, was er selbst an dieser Stelle aufzuweisen hatte. Zu welch anregenden Täuschungen männliche Augen sich doch eigneten!
    N ach einer trägen Rasur entschloss er sich, die Reste des weichen Schaums von der Dusche abwaschen zu lassen. Er fühlte sich unrein, als wäre er nach einem langen, anstrengenden Arbeitstag einer Schweißfahne auf der Spur, die sich schließlich, nach langem Schnuppern, als seine eigene entpuppte. Das warme Wasser, unter dem er sich wohlig wand, weichte den Schorf des Kratzers auf seiner Brust wieder auf, sodass ein Blutströpfchen aus der geröteten Haut trat – ein winziges Opfer für die kleine Verursacherin.
    Sein Kopf wurde langsam klarer. In dem aus fast sichtbaren Wassertröpfchen gebildeten Dunst, der die Kabine füllte und sachte zur Decke hinauftrieb, sah er plötzlich ganz deutlich vor sich, wie das Telefon auf dem fernen Nachttisch zu vibrieren begann. Er lauschte, konnte aber durch das Rauschen des Wassers hindurch nicht feststellen, ob da wirklich ein Geräusch katzengleich durch die Wohnung glitt. Er drehte das Wasser ab – und es war Stille! Dennoch bewahrte er beim Abtrocknen eine ihm selbst lächerlich vorkommende Vorsicht, rieb sich nicht zu stark ab und sparte sogar die Ohren aus, um nicht den Ruf der Welt zu verpassen. Es könnte ja Martha sein ...
    In seiner kleinen Küche, in der noch die leeren Bierflaschen der letzten Nacht neben dem Kühlschrank auf den Transport in das Kistenlager im Keller warteten, wärmte er

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