Vater unser
ernst.
« Genau wie die Cowboys. Willkommen im Wilden Westen.» Er trat an das Fenster.
« Es ist wunderschön hier, nicht wahr?» Sie nickte, doch plötzlich entglitten seine Worte ihr wieder. Es war, als habe ihr Verstand beschlossen, ein kurzes Nickerchen zu machen, ohne ihr vorher Bescheid zu geben. Und wenn er wieder aufwachte, hatte sich die Welt für eine Weile ohne sie weitergedreht.
« Findest du nicht auch?», fragte er leise und versuchte, sie auf diese Weise zurückzuholen. Er wartete einen Augenblick, bevor er sie erneut fragte.
« Findest du nicht auch? Ist diese Gegend nicht wunderschön?»
« Ja», erwiderte sie.
« Ist es wirklich so kalt draußen?»
« Alle sagen, das sei nur ein verspäteter Schneesturm gewesen. Der Frühling steht vor der Tür, schließlich ist es schon Mai», erklärte John. Dann klopfte er gegen die Fensterscheibe, doch die Vögel beachteten ihn nicht.
« Es ist so friedlich dort draußen! Ich glaube, das ist genau das, was wir jetzt brauchen, Julia. Abstand von dem ganzen Wahnsinn, damit wir dafür sorgen können, dass es dir bessergeht.» Dem ganzen Wahnsinn. Die letzten Wochen lagen in einem dichten Nebel verborgen, doch vielleicht war das ganz gut so. Julia wusste nicht mehr genau, wann sie begriffen hatte, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Trotz der Medikamente war sie sich nicht sicher, was real gewesen war und was nicht. Die Telefonanrufe, die Demonstranten, die Reporter, die sie verfolgten ... David Marquettes lächelndes Gesicht tauchte immer und immer wieder vor ihrem geistigen Auge auf. Hatte sie sich in ihm getäuscht? Hatte er sie wirklich angelächelt? Sie hatte Angst, John danach zu fragen. Also fraß sie den Zweifel in sich hinein. John behauptete steif und fest, dass niemand davon erfahren hatte, was mit ihr geschehen war. In den Tagen nach der Gerichtsverhandlung habe sie sich merkwürdig benommen und immer mehr zurückgezogen. Als John sie schließlich dazu brachte, mit ihm zu reden, erzählte sie ihm, dass etwas mit ihr nicht stimmte, dass sich ihre Gedanken nicht so anhörten, wie sie es gewohnt war. Dass sie klangen, als stammten sie von jemand anders. Und manchmal sogar, als kämen sie aus dem Fernseher. Noch in derselben Nacht hatte sich John mit ihr in ein Flugzeug gesetzt und war mit ihr hierhergeflogen, weit, weit weg von Miami. Julia wusste nicht, wo sie war, unterschrieb alle Papiere, die er ihr vorlegte, nahm alle Medikamente, die er ihr gab. Sie erinnerte sich, dass sie geweint hatte, als sie an dem Schild mit der Aufschrift Montana State Hospital vorbeigefahren waren. Hier, in der Abgeschiedenheit der Rocky Mountains, kannte niemand sie. Das hatte John ihr zumindest versichert.
« ... bevor ich Geld investiere, will ich sichergehen, dass es mir hier draußen auch gefällt. Immobilien sind immer eine gute Investition, selbst wenn es bis zur Pensionierung noch ein Weilchen hin ist. Ich habe darüber nachgedacht, mal nach Bozeman zu fahren. Das soll eine wirklich nette Universitätsstadt sein. Einer der Jungs aus dem Raubdezernat ist dort hingezogen, und er schwärmt ununterbrochen davon. Ist auch nicht weit entfernt von Helena oder Jackson Hole in Wyoming. Ich wette, du wärst ein süßes Skihäschen.» John wandte sich vom Fenster ab und nahm Julias Hand.
« Was halten Sie davon, meine Dame? Würden Sie hier gern eines Tages mit mir Pferde züchten?»
« Was ist mit deinem Job?», fragte Julia.
« Hast du im Moment keinen Fall, um den du dich kümmern musst?»
« Miami wird für eine Weile ohne mich auskommen. Für eine lange Weile, wenn es sein muss.» Er lachte.
« Ich habe neulich mit Brill telefoniert. Offenbar hoffen einige meiner Kollegen, dass ich nie wiederkomme.» Er sah sie einen Moment lang nachdenklich an.
« Hör mal, ich habe seit Jahren keinen Urlaub gemacht und jede Menge Überstunden angesammelt. Eine kleine Auszeit tut mir mal ganz gut.» Julia schloss die Augen und kämpfte mit den Tränen.
« Hey», sagte er und strich sanft über ihr Gesicht.
« Wir sorgen schon dafür, dass es dir bald bessergeht. Lass uns einfach ein wenig entspannen. Wir werden angeln, wandern und bergsteigen. Und vielleicht gehen wir irgendwann zurück. Aber bitte eins nach dem anderen.» Er lächelte, aber Julia sah ihm an, wie erschöpft und besorgt er in Wahrheit war.
« Du musst das nicht für mich tun», sagte sie unter Tränen.
« Hör mal zu, Julia. Ich liebe dich. Das weiß ich schon seit langer Zeit. Ich liebe deine Stärke, deine
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