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Vellum: Roman (German Edition)

Vellum: Roman (German Edition)

Titel: Vellum: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hal Duncan
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alles war nur frei erfunden. Und obendrein noch bei anderen gestohlen. Mein Onkel saß einfach nur in seinem Lehnstuhl und rauchte seine Zigarette.
    »Weißt du, das wird schon seit Jahrzehnten nicht mehr gedruckt«, sagte er und reichte es mir zurück. »Du solltest es lesen. Ehrlich. Es wird dir bestimmt gefallen.«
    Auf seinem Gesicht lag das alte verschmitzte Lächeln.
     
    »Klar habe ich Laafkräft gelesen«, sagte Joey. »Jeder in der Familie Carter muss früher oder später Laafkräft lesen. Du ganz besonders, Jack.«
    Ich zündete eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und ließ die Jungs eine Weile zappeln. An Jack und Joey war ich während unseres ersten Jahres an der Universität geraten – Jack, der wilde Bursche mit den flammenden Haaren und der Neigung, nachts betrunken auf Fenstersimse hinauszuklettern ... auch ein Carter, merkwürdigerweise, aber soweit ich weiß, nicht mit mir verwandt; Joey Pechorin, der Nihilist mit der dunklen Stimme – anfangs erweckt er den Eindruck, als bemühe er sich allzu sehr, cool zu wirken, bis man ihn besser kennenlernt und feststellt, nein, er ist tatsächlich so mürrisch und abweisend. Feuer und Eis. Sie waren Freunde seit der Schulzeit, unzertrennlich, bis sich Jack den flatterhaften Thomas mit dem tollen Augenaufschlag geangelt hatte. Thomas Messenger, so tuntig und feenhaft, dass wir ihn einfach Puck nennen mussten. Puck, der – wie immer – zu spät kam. Ich sah, wie Jack auf die Uhr schaute, zur Tür blickte.
    »Warum, meinst du, heißt eine seiner Figuren Carter?«, sagte ich.
    »Bockmist«, hustete Joey mit vorgehaltener Hand.
    Aber es war offensichtlich, dass die Vorstellung ihn faszinierte.
    »Bei allem, was mir heilig ist«, sagte ich. »Er kannte meinen Großvater, als –«
    »Ach, verarsch dich doch selbst«, sagte Joey. »Aber lass mich damit in Ruhe.«
    Ich schüttelte den Kopf und bedachte ihn mit einem traurigen, resignierten Blick. Selbst schuld.
    »Dann glaub mir eben nicht. Ist mir doch egal. Ich weiß, dass das ›Buch‹ existiert. Und ich weiß, wo es ist.«
     
    Die Legenden eines ganzen Lebens, ein Leben voller Legenden, des geweckten Interesses, der gewetzten Neugier, zu einem ausgesprochen nützlichen Werkzeug geschliffen – diese Universität hatte ich mir nicht ihres akademischen Rufs wegen ausgesucht. Der pseudogotische Turm und die Innenhöfe waren mir schnurz, ebenso die heruntergeleierten Vorlesungen über Shakespeare und Spenser und Milton, die Gespreiztheit und Förmlichkeit dieses oder jenes Professors, der mit seinem schwarzen Talar und der feierlichen Stimme noch immer in einem früheren Jahrhundert zu leben schien. Die drei Jahre, die ich hier in der Bibliothek verbracht hatte, hatte ich ihren Korridoren gewidmet, nicht den Büchern. Inzwischen kannte ich das Gebäude in- und auswendig, als hätte ich mein ganzes Leben dort zugebracht, jedes Stockwerk, jeder Winkel, jede Tür waren mir vertraut. Ich hatte die Baupläne studiert. Ich hatte mich mit Wachleuten und Bibliothekaren angefreundet. Die letzten anderthalb Jahre hatte ich dort stundenweise gearbeitet. Ich wusste, wo sich die Kameras befanden, um welche Uhrzeit die Wachleute nachts ihre Runden drehten, wer die Überwachungsanlage hergestellt hatte, wie sie funktionierte, wie sie lahmgelegt werden konnte. Und nun war ich endlich so weit.
    »Ich weiß, wo es ist«, sagte ich.
    »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, sagte Joey.
    Ich auch, dachte ich. Ich auch.
     
     
    Zwischen Kabbala und Infinitesimalrechnung
     
    Für mich drei Jahre und für meine Familie drei Generationen – vielleicht mehr, falls mein Onkel Recht behielt. Er hatte mir erzählt, dass im Mittelalter jede Zunft, jedes Handwerk und jedes Gewerbe ein eigenes Mysterienspiel aufführte, das auf einer Geschichte aus der Bibel oder aus den Apokryphen beruhte. Die Steinmetze führten ein Stück über den Turmbau zu Babel auf, die Weinhändler ein Stück über Noahs Rausch. Und dann erzählte er mir, er habe von einem weiteren Stück über Engel gehört, die weder für Gott noch für Luzifer kämpften, sondern dem Krieg im Himmel entflohen, zur Erde hinab. Sie nahmen das Buch des Lebens mit, damit es nicht vernichtet werde. Sie trugen es über die ganze Erde, von einem Versteck zum anderen, immer weiter. Dieses Stück wurde – natürlich – von den Fuhrleuten aufgeführt. Von den Carters.
     
    »Aber natürlich«, sagte mein Vater, »damit hat alles angefangen. Die Fuhrleute sind überall

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