Venedig sehen und stehlen
wieder zu ihr hinübergesehen. Aber er sah nur die schwarzen Haare, durch die sie sich ständig mit ihrer Hand fuhr. Dabei musste sie, während sie fahrig in einer italienischen Zeitung blätterte, immer wieder ihre Sonnenbrille, die sie sich ins Haar gesteckt hatte, zurechtrücken. Nur einmal drehte sie sich zum Gang und bestellte bei der Stewardess ein acqua, was wunderbar italienisch klang. Aber da versperrte die Alitalia-Dame mit ihrem Getränkewagen Harry schon wieder den Blick.
Die Maschine entfernte sich von der Küste und durchflog kurz ein paar wattige Wolkenfetzen, die über dem azurblauen Wasser lagen. Mit einem Gong leuchtete das Zeichen zum Anschnallen auf. Die Stewardess ging prüfend durch die Reihen, ob alle angeschnallt waren, und sammelte die letzten Kaffeebecher ein. Die beiden Amerikanerinnen in Rosa gerieten von einem Tintoretto zum nächsten immer mehr außer sich.
Harry konnte das Gefühl nicht loswerden, dass er mit seinem Abflug nach Italien reichlich übertrieben reagiert hatte. Irgendwie kam ihm das alles auf einmal komisch vor. Statt Zoe hatte er diesen schnarchenden Russen neben sich, der mit jedem Luftloch, in das die Fokker sackte, seinen Schnarchton änderte. Als die Maschine zu einem weiten Bogen über dem Meer ansetzte und sich kurz auf die Seite legte, fiel der Dicke fast ganz zu ihm herüber. Er roch nach Schweiß, Ballantine’s und billigem Rasierwasser. Als Harry sich zum Gang drehte, sah er im Fenster das Meer glitzern. Und dazu wehte wie zur Erholung kurz ein Hauch von Kokos zu ihm herüber.
Irgendwie hatte sich Zoe in den letzten Monaten verändert. Ihre Secondhandklamotten trug sie immer seltener. Sie kaufte nach wie vor im East Village ein, aber jetzt ging sie in die Boutiquen. Und auch ihre Haare trug sie anders, seit sie neulich beim Friseur gewesen war.
Vor drei Jahren, als Harry aus Deutschland gekommen war, war Zoe achtzehn, ein flippiges New Yorker Mädchen mit verzottelten schwarzen Haaren und dunkelbraunen schwarz umränderten Augen. Sie trug die unterschiedlichsten Klamotten und Lederjacken. Hauptsache schwarz. Ein bisschen punkig hatte sie ausgesehen, aber mehr noch wie ein It-Girl aus Andy Warhols Factory. Harry war sofort hin und weg.
Er war mit nichts als einer Zahnbürste, katastrophalem Englisch und drei Nolde-Aquarellen in New York angekommen, das heißt, die Aquarelle hatte er mit der Post vorausgeschickt. Das Ölbild, Emil Noldes »Feriengäste«, weswegen er eigentlich in das Museum in Seebüll eingestiegen war, hatte er auf der Nordseeinsel Amrum zurücklassen müssen. Er hatte nur die Adresse dieses geheimnisvollen Kunsthändlers Sam Lieberman in der Lower Eastside. Als sein Coup so gründlich danebengegangen war und Harry im letzten Moment über die Inseln fliehen musste, hatte er das nächste Flugzeug nach New York genommen und war einfach seinen Nolde-Aquarellen hinterhergeflogen. Das hatte ihn gerettet.
Zoe und ihr Vater Sam hatten ihn sofort bei sich aufgenommen. Sie lebten allein in einer großen dunklen Wohnung, in der es nach alten Büchern roch, in einem Brownstonehaus in der Zehnten Straße East. Die Mutter war vor ein paar Jahren an Krebs gestorben.
Gleich am ersten Abend hatte Zoe ihn zu einer Tanzperformance in einer ehemaligen Kirche mitgeschleppt. Die wenigen Zuschauer saßen am Rand auf schmalen Holzbänken. In der Mitte wurde getanzt. In der Pause wurde Zoe von den Tänzern mit Küsschen begrüßt. Und anschließend saßen sie mit einigen der Besucher und Tänzer in einem düsteren Lokal in Chinatown. In dem vollkommen zugestellten Raum mit Riesenaquarium und Plastiktischdecken aßen sie Dim Sums, gefüllt mit Hühnerfüßen und Haifischflossen, und tranken Budweiser aus Flaschen. Harry meinte Dim Sums von der Reeperbahn zu kennen. Aber diese Dim Sums aus Chinatown hatte er noch nicht gegessen. Und auch so eine Hot and Sour Soup von dieser Schärfe nicht.
»You like lealy hot?« , hatte die dicke Chinesin gefragt und Harry hatte nichts verstanden. »Lealy spicy! Lealy !«,wiederholte die Bedienung.
Bedeutender als die erste Nacht oder der erste Kuss, ist vielleicht das erste gemeinsame Lachen.
»Lealy hot« , imitierte Zoe die chinesische Bedienung. Harry, dessen Englisch damals grauenvoll war, blickte verdattert.
»Lealy« , wiederholte Harry und Zoe musste loslachen.
Dabei zeigte sie ihre etwas zu großen, ein wenig vorstehenden Schneidezähne. Er musste mitlachen, obwohl er nicht recht wusste, worüber. In dem Moment
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