Venedig sehen und stehlen
dicken Ispettore ganz dicht im Nacken gespürt. Den war er erstmal los. Doch jetzt schien auch der Motor des Bootes Schwierigkeiten zu machen. Er nagelte ungesund und nahm das Gas immer erst mit einiger Verzögerung an. Aber Harry steuerte das Boot geschickt durch die engen Nebenkanäle. Als er zum dritten Mal die Fondamenta della Misericordia passierte – dieses Mal in normalem Tempo –, schien er die Polizei endgültig abgehängt zu haben. Dafür bemerkte er den Hund, der auf einmal im Boot vor ihm stand. Er war von undefinierbarer Farbe und Rasse, irgendwo zwischen Riesenschnauzer und Collie, und musste wohl im vorderen Teil des Bootes gepennt haben. Jetzt stand er mit den Vorderpfoten auf der Reling und hielt genüsslich seine Schnauze in den Fahrtwind.
Harry fuhr an dem »Antica Mola« vorbei, dem Restaurant, wo er und Zoe in den letzten Tagen immer wieder risotto nero und vor allem sarde in saor gegessen hatten. Ein paar Deutsche saßen an einem der Tische draußen. Die anderen Mittagsgäste waren aus der Sonne nach drinnen geflüchtet. Zwei Männer in blauen Overalls trugen einen gigantisch großen venezianischen Spiegel mit einem wuchtigen goldenen Rahmen von den Ausmaßen eines Handballtores über eine Brücke.
Verzweifelt versuchte Harry sich zu orientieren. Er wohnte zwar schon seit fast einer Woche in Cannaregio, aber vom Wasser sah alles ganz anders aus. Die Straßennamen waren, wenn überhaupt, nur schwer zu lesen. Und statt der verschiedenfarbigen Häuserfassaden hatte Harry vom Boot aus vor allem die moos- und algenbewachsene Wasserkante auf dem maroden Mauerwerk im Blick.
Er reduzierte das Tempo und steuerte das Boot nach rechts in einen kleinen Seitenkanal. Hoch über ihm hingen schlapp schon wieder die beiden Garnituren schwarz-blau-gestreifte Inter-Mailand-Bettwäsche. Auf dem Wasser dümpelten eine halb verrottete Obstkiste und ein ausgedienter Gummihandschuh. Das Wasser roch faulig.
Er bog noch einmal rechts ab. Auf jeden Fall musste er von diesem Rio della Misericordia wegkommen. Wer weiß, ob die Typen von der Getränkebude inzwischen nicht schon ein anderes Boot organisiert hatten, um ihn zu verfolgen.
Ganz eng schob Harry sein Boot an einem anderen vorbei, auf dem ein kleiner Schaufelbagger montiert war, mit dem ein Mann Sand auf eine Schubkarre lud. Als er das Bauboot gerade passiert hatte, zuckte Harry zusammen.
Ein Stück weiter links, parallel zu sich im nächsten Kanal, sah er wieder das schnittige Holzboot des jungen Commissario. Harrys Puls schnellte augenblicklich in die Höhe. Er überlegte nicht lange und gab Gas. Der Motor hüstelte kurz und dann streckte das Boot seinen Bug aus dem Wasser. Der Hund wechselte schwanzwedelnd auf die andere Seite. Das Hämmern des Motors hallte von den Wänden der engen Kanalschlucht wider. Harry bog erneut in den Rio della Misericordia ein.
Im selben Moment drehte sich auch das schlanke Holzboot des Commissario in den größeren Kanal. Während Harry auf der Bank am Heck des Bootes neben dem Außenborder hockte, stand dieser eitle Fatzke von Kommissar in seinem blauen Polohemd mit hochgestelltem Kragen hinter einem richtigen Steuerrad. Seine Spiegelsonnenbrille blitzte in der Sonne. Harry drehte den Gasgriff bis zum Anschlag. Schon von Weitem sah er den Bootsbesitzer in dem Azzurri-Trikot aufgeregt schimpfend auf den Fondamenta entlangtigern.
»Porca miseria! Da ist er, der verdammte Idiot mit dem Gipsbein«, rief der Mann. Der zottelige Hund an Bord bellte freudig ein paar Mal.
Die gefärbte Blondine in dem orangefarbenen Trainingsanzug, die in der Bude den Sprizz ausschenkte, drohte ihm mit der Faust. »Gambadigesso! Wir kriegen dich.«
Der Ispettore stand immer noch keuchend daneben. Er hatte seine Mütze abgenommen und sah ihm traurig hinterher mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er noch etwas sagen.
In einem Abstand von vielleicht fünfzig Metern pflügten die beiden Boote durch das brackige Wasser. Der Hund drehte sich kurz zu Harry um. Er guckte recht freundlich, als würden sie jeden Tag zusammen so über die Kanäle jagen.
Commissario Lompo war hartnäckiger, als Harry gedacht hatte. Jetzt wollte er es offensichtlich wissen. Wenn diese jungen Italiener in Venedig schon nicht Vespa fahren konnten, dann karriolten sie wenigstens in ihren Motorbooten durch die Kanäle, dachte er. Dieser Lackaffe mit seiner blöden Sonnenbrille, der nicht wie ein Beamter, sondern eher wie ein verzogener Playboy aussah, jagte ihn mit Feuereifer
Weitere Kostenlose Bücher