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Venezianische Verlobung

Venezianische Verlobung

Titel: Venezianische Verlobung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicolas Remin
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Überraschungsmoment.
    Sie nickte unmerklich. Plötzlich erfüllte Ruhe ihren  Verstand wie klares, blaues Wasser. Im Grunde war es wie das Ziehen einer Brieftasche. Es lief alles auf Schnelligkeit und auf gute Reflexe hinaus – wobei es nie schaden konnte, wenn man den Gegner überraschte. Und genau das tat sie jetzt. Ihre linke Hand schnellte zum Nachttisch und schnappte zu. Sie bekam den Griff der Schere zu fassen und riss mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, ihren Arm herum. Die Schere, blasssilbern im Flackern des Kerzenlichtes, fuhr mit einem feinen Zischen durch die Luft, schlitzte ihm die Wange auf und durchstach sein rechtes Auge. Er fing an zu kreischen – ein hohes, atemloses Kreischen –, und bevor er sich auf sie stürzen konnte, stieß sie ein zweites Mal zu. Diesmal traf sie sein linkes Auge, ließ die Schere los und warf sich zur Seite. Das Kreischen des Mannes hörte sich jetzt an wie das Geheul eines Wahnsinnigen. Doch anstatt sich die Schere aus der Augenhöhle zu ziehen, fuchtelten seine Hände in der Luft herum, so als wollte er sich an nur für ihn sichtbaren Griffen festhalten.
    Er richtete sich keuchend auf, kam taumelnd auf die Beine, prallte hart mit der Stirn gegen die Wand und drehte sich dann zurück, wobei er eine pirouettenartige, fast anmutige Drehung vollführte. Dann rutschte er langsam an der Wand zu Boden, und das Letzte, was sie registrierte, bevor sie sich übergab und anschließend das Bewusstsein verlor, war die weißliche Flüssigkeit, die aus seinem aufgeschlitzten rechten Auge sickerte, und die Schere in seinem linken Auge, die der Aufprall auf die Wand tief in seinen Schädel getrieben hatte.

51

    «Das Fieber ist deutlich gefallen», sagte die Principessa zu Tron. «Dr. Garzoni war sehr erleichtert.»
    Sie lag auf ihrer Récamiere und angelte ohne sich aufzurichten mit der rechten Hand nach ihrer Kaffeetasse. Ihre Stimme klang verschliffen und matt. Tron schätzte, dass sie in den letzten drei Nächten alles in allem höchstens fünf Stunden geschlafen hatte. Es war kurz nach vier Uhr und der dritte Tag, nachdem die Ereignisse am Rio della Verona das Kaleidoskop ein letztes Mal gedreht hatten.
    Tron, der direkt von der questura gekommen war und den Salon der Principessa vor zwei Minuten betreten hatte, beugte sich über den kleinen Tisch, der zwischen ihnen stand. «Kann ich zu ihr hochgehen?»
    Die Principessa schüttelte den Kopf. «Sie schläft. Und  das soll sie auch. Wir bewegen uns hier alle auf Zehenspitzen.»
    Tron hatte plötzlich das Bedürfnis, sich selbst die Schuld an allem zu geben. Diesmal sprach er es aus: «Das alles wäre uns erspart geblieben, wenn ich Beust nicht ihre Adresse verraten hätte.»
    Was die Principessa zu seiner Erleichterung als Aufforderung verstand, ihm zu widersprechen. «Du hast dir nichts vorzuwerfen», sagte sie. «Dass dieser Beust dermaßen gerissen sein würde, konnte niemand ahnen.»
    Und auch nicht, dachte Tron, dass Beust das Spiel trotz seiner Gerissenheit in letzter Sekunde verlieren würde – aber das hatten sie noch nicht gewusst, als sie feststellten, dass Angelina Zolli verschwunden war und weder Pater Maurice noch die Zulianis sagen konnten, wo sie sich aufhielt. Ohne nachzudenken, hatte die Principessa vorge schlagen, die Wohnung am Rio della Verona zu überprü fen, was Tron sofort einleuchtend erschien, obwohl er nicht sagen konnte, warum.
    Sie fanden sie bewusstlos auf dem Bett im Schlafzimmer  – unverletzt bis auf eine Reihe von Druckstellen am Hals.
    Kaum eine Armeslänge von ihr entfernt lag Kapitänleutnant von Beust zusammengekrümmt auf dem Fußboden. Eine Schere steckte tief in seiner linken Augenhöhle und Tron brauchte nicht besonders viel Phantasie, um zu rekonstruieren, was geschehen war. Ihre Kaltblütigkeit und ihre guten Reflexe hatten Angelina Zolli das Leben gerettet – vorerst jedenfalls, denn nun lag sie mit glühendem Gesicht auf dem Bett, und ihr Atem ging beängstigend flach und unregelmä ßig.
    Eine halbe Stunde später, in einem der Gästezimmer des  Palazzo Balbi-Valier, hatte sie kurz die Augen aufgeschlagen, einen winzigen Augenblick erstaunt gelächelt und dann nach der Hand der Principessa gegriffen, die neben dem Bett saß. Dr. Garzoni, der sofort gekommen war, hatte ein äußerst ernstes Gesicht gemacht, und Tron hatte zum ersten Mal unverhohlene Angst in den Augen der Principessa gesehen.
    Er ließ ein Stück Zucker in seinen Kaffee fallen und griff nach seinem

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