Venezianische Verlobung
1
Der sandalo war lächerlich klein, höchstens drei Meter lang, dafür aber war das Boot, wie der Mann schnell feststellte, außerordentlich wendig. Als er seinen Rhythmus gefunden hatte (ein Ruderschlag kam auf vier Atemzüge), lagen die Ruder bequem in der Hand, und das leise Klatschen, das sie beim Eintauchen ins Wasser machten, war kaum zu hören.
Wäre der kalte Nebel nicht gewesen, der mit jedem Ruderschlag dichter wurde, hätte es ihm sogar Spaß gemacht, durch die nächtlichen Kanäle zu rudern.
Die Sicht betrug höchstens drei Meter, und er hielt sich sorgfältig in der Mitte des Kanals, um nicht an einen der hölzernen Stege zu stoßen, die bei Flut nur knapp über der Wasseroberfläche lagen. Die Hausfassaden, die sich als schwarze, kompakte Massen zu beiden Seiten des rio auftürmten, zogen vorüber wie ferne Vorgebirge. Ein paar Ruderschläge lang fühlte er sich in die Zeit zurückversetzt, als die Lagunenstadt noch ein Gewirr aus schilfbewachsenen, unbewohnten Inseln gewesen war.
Als Gelächter aus einem der Fenster drang, an denen er gerade vorüberglitt, fuhr sein Kopf ruckartig herum. Das Gelächter schwoll an, zerfiel dann wie morsches Gestein in trockenes Kichern und erinnerte ihn daran, wie er sie zum ersten Mal gesehen hatte: kichernd in einer Gruppe von anderen jungen Frauen, die (es war ein sonniger Frühlingsmorgen gewesen) in weißen, luftigen Kleidern auf der Piazza vor dem Café Quadri gestanden hatten.
Vor fünf Minuten hatte er die Mündung des Rio di San Luca passiert und steuerte den sandalo jetzt vorsichtig in den Rio della Verona. Sein Ziel war das vierte Haus auf der linken Seite, ein kleines zweistöckiges Gebäude mit schadhaftem Putz und einem reparaturbedürftigen Dach. Er würde es auch bei dichtem Nebel daran erkennen, dass der kleine Holzsteg vor dem Wassertor mit einem weißen Geländer versehen war.
Heute Nachmittag hatte er kurz mit dem Gedanken ge spielt, eine große Flasche Grappa zu kaufen, den Korken wegzuwerfen, sich voll laufen zu lassen und notfalls zwei Tage lang die Luken dichtzumachen. Aber er wusste, dass das keine Lösung war, und seine Hände verkrampften sich um die Ruder. Dann sah er das weiße Geländer durch den Nebel schimmern und darunter den Steg.
Er legte die Ruder ab, wobei er sorgfältig vermied, ein Geräusch zu verursachen. Dann stand er vorsichtig auf, zündete sich eine Zigarette an und blies einen Rauchring in den Nebel. Ohne Überraschung registrierte er, dass der Rauch regungslos in der feuchten Luft verharrte. Schließ lich bückte er sich und griff nach der Leine, die am Bug des sandalo befestigt war. Beim Bücken presste sich die Lederscheide, in der sein Messer steckte, gegen seine Hüfte.
Das Mädchen trug ein dünnes Kleid, darüber einen zer schlissenen Umhang aus dunkelbraunem Stoff, der knapp unter ihren Knien endete, und der Schnelligkeit wegen einfache Leinenschuhe. Im Schein der Gaslaternen, die den Eingang des Teatro La Fenice zu beiden Seiten flankierten und kränklich durch den dichten Nebel schimmerten, färbte sich ihr Haar fast goldblond. Der Laternenschein betonte die Schönheit ihres Gesichtes, das von dem feinen Sprühre gen, der durch die Nebeldecke herabsickerte, klitschnass war. Das Mädchen strich sich mit der Hand über die Stirn, so als könne sie den Nebel wegwischen wie einen feuchten Fleck auf einer Tischplatte, aber die Nässe schien an ihr zu kleben wie Spinnweben.
Ihre Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten, als ihr Blick zwei jüngere Mädchen streifte, die auf der anderen Seite des Eingangs warteten, um nach der Vorstellung Sträußchen aus Strohblumen zu verkaufen – mit einem artigen Knicks. Bei dem Gedanken, dass sie bei ihrer Arbeit einen Knicks machen könnte, musste sie lachen.
Pünktlich um halb elf drang ein Glockenschlag von San Stefano durch den Nebel, und fast gleichzeitig gingen die Lichter im Foyer an. Ein paar Minuten später kamen die ersten Opernbesucher von der Garderobe, und die livrierten Diener rissen die Türen auf. Einen Augenblick lang wehte ein Schwall stickiger, warmer Luft aus dem Foyer des Fenice-Theaters auf den kalten Vorplatz, und ein schartiger Lichtstrom von Gelb und Orange ließ den Nebel über den Eingangsstufen aufleuchten.
Dann strömten die Besucher ins Freie, und mit einem Mal hatte sich der Campo San Fantin, der vor zehn Minuten lediglich von einem knappen Dutzend frierender Diener bevölkert worden war, in einen Bienenstock
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