Verbrechen und Strafe (Schuld und Sühne)
wurde.
Die Mutter Raskolnikows war noch beim Anfange des Prozesses erkrankt. Dunja und Rasumichin brachten es fertig, sie für die Dauer des ganzen Prozesses aus Petersburg fortzubringen. Rasumichin wählte eine an der Eisenbahn gelegene Stadt in der Nähe von Petersburg, um die Möglichkeit zu haben, den Prozeß regelmäßig zu verfolgen und zugleich möglichst oft Awdotja Romanowna zu sehen. Die Krankheit Pulcheria Alexandrownas war nervöser Natur und sehr eigentümlich, begleitet von einer wenn auch nicht völligen, so doch teilweisen Geistesstörung. Als Dunja von ihrer letzten Zusammenkunft mit dem Bruder zurückkehrte, traf sie die Mutter schon ganz krank an, im Fieber und phantasierend. Am gleichen Abend kam sie mit Rasumichin überein, was man der Mutter auf die Fragen nach dem Bruder antworten solle, und erfand mit ihm zusammen für die Mutter eine ganze Geschichte, daß Raskolnikow irgendwo sehr weit an die Grenze Rußlands, in einem privaten Auftrage gereist sei, der ihm endlich Geld und Berühmtheit einbringen würde. Aber Pulcheria Alexandrowna stellte zum Erstaunen der beiden weder damals noch später irgendwelche Fragen. Im Gegenteil, sie wußte selbst eine ganze Geschichte über die plötzliche Abreise des Sohnes; sie erzählte unter Tränen, wie er zu ihr gekommen war, um Abschied zu nehmen; machte dabei Andeutungen, daß nur sie allein manche höchst wichtigen und geheimnisvollen Umstände kenne und daß Rodja viele mächtige Feinde habe, so daß er sich sogar verbergen müsse. Was aber seine zukünftige Karriere betraf, so erschien sie ihr als unzweifelhaft und glänzend, wenn gewisse widrige Umstände beseitigt sein würden; sie versicherte Rasumichin, daß ihr Sohn mit der Zeit sogar ein Staatsmann werden würde, wofür sein Artikel und seine glänzende literarische Begabung zeugten. Diesen Artikel las sie fortwährend, las ihn manchmal auch laut vor und nahm ihn sogar mit ins Bett; und doch fragte sie nie, wo sich Rodja jetzt aufhalte, obwohl man es augenscheinlich vermied, mit ihr darüber zu sprechen, was schon allein ihren Argwohn hätte wecken müssen. Dieses seltsame Schweigen Pulcheria Alexandrownas über gewisse Punkte erschien zuletzt beängstigend. Sie beklagte sich zum Beispiel nicht, daß sie von ihm keine Briefe erhalte, während sie früher, als sie noch in ihrem Städtchen wohnte, nur von der Hoffnung und Erwartung gelebt hatte, bald einen Brief von ihrem geliebten Rodja zu bekommen. Dieser Umstand war doch gar zu unerklärlich und beunruhigte Dunja sehr; ihr kam der Gedanke, daß die Mutter vielleicht etwas Schreckliches über das Los ihres Sohnes ahne und zu fragen fürchte, um nicht etwas noch Fürchterlicheres zu erfahren. Dunja sah jedenfalls klar, daß Pulcheria Alexandrowna nicht bei vollem Verstande war.
Ein paarmal war es übrigens vorgekommen, daß sie das Gespräch selbst so leitete, daß es unmöglich war, ihr zu antworten, ohne zu erwähnen, wo sich Rodja jetzt befand; und als die Antworten naturgemäß ungenügend und verdächtig ausfielen, wurde sie plötzlich außerordentlich traurig, düster und schweigsam, was eine ziemlich lange Zeit anhielt. Dunja sah schließlich ein, daß es sehr schwer war, zu lügen und zu erfinden, und kam zum endgültigen Entschluß, über gewisse Punkte vollkommen zu schweigen; aber es wurde immer klarer, daß die arme Mutter etwas Schreckliches argwöhnte. Dunja erinnerte sich unter anderem der Worte ihres Bruders, daß die Mutter sie in der Nacht vor jenem schicksalschweren Tage nach der Szene mit Swidrigailow habe phantasieren hören. Ob sie wohl etwas verstanden hatte? Oft, manchmal nach mehreren Tagen und sogar Wochen eines düsteren Schweigens und stummer Tränen wurde die Kranke plötzlich hysterisch lebhaft und fing an, laut von ihrem Sohne, von ihren Hoffnungen und von der Zukunft zu sprechen ... Ihre Phantasien waren bisweilen sehr sonderbar. Man tröstete sie, man stimmte ihr bei (sie sah vielleicht selbst, daß man ihr beistimmte, nur um sie zu trösten), und doch redete sie ...
Fünf Monate nach der Selbstanzeige des Verbrechers erfolgte das Urteil. Rasumichin besuchte ihn im Gefängnis, so oft es nur möglich war. Ssonja ebenfalls. Schließlich schlug die Stunde der Trennung. Dunja schwur dem Bruder, daß dies keine Trennung für immer sei. Auch Rasumichin bestätigte es. In Rasumichins jungem und feurigem Kopfe hatte sich der Plan festgesetzt, in den folgenden drei oder vier Jahren möglichst den Grund zu einem
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