Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
ich sie! Warum hasse ich sie jetzt? Ja, ich hasse sie; ich hasse sie physisch, ich kann ihre Nähe nicht ertragen ... Vorhin ging ich auf die Mutter zu und küßte sie, ich erinnere mich noch ... Sie umarmen und dabei denken, daß, wenn sie es wüßte ... ich es ihr vielleicht sagen würde? Das sähe mir ähnlich ... Hm! siemuß ebenso sein wie ich – fügte er hinzu, seine Gedanken mühevoll fortspinnend, wie gegen einen Fieberanfall ankämpfend. – Oh, wie hasse ich jetzt die Alte! Ich glaube, ich würde sie noch einmal ermorden, wenn sie zu sich käme! Arme Lisaweta! Warum kam sie dazwischen! ... Es ist aber sonderbar, warum ich an sie fast gar nicht denke, als hätte ich sie gar nicht ermordet! ... Lisaweta! Ssonja! Ihr Armen, Sanften mit sanften Augen ... Ihr Lieben! Warum weinen sie nicht? Warum stöhnen sie nicht? ... Sie geben alles hin ... sie blicken sanft und still ... Ssonja, Ssonja! Stille Ssonja! ... –
Er verlor das Bewußtsein; so sonderbar erschien es ihm, daß er nicht mehr wußte, wie er auf die Straße geraten war. Es war schon später Abend. Die Dämmerung verdichtete sich, der Vollmond leuchtete immer greller und greller; aber die Luft war so furchtbar drückend. In den Straßen bewegten sich Mengen von Menschen; Handwerker und anderes Arbeitsvolk gingen heim, andere gingen spazieren; es roch nach Kalk, Staub und stehendem Wasser. Raskolnikow ging traurig und bekümmert dahin: er wußte noch sehr gut, daß er mit einer bestimmten Absicht das Haus verlassen hatte, daß er etwas tun sollte und sich beeilen mußte, doch was er zu tun hatte, das wußte er nicht mehr. Plötzlich sah er auf dem Trottoir, auf der anderen Straßenseite einen Mann stehen und ihm mit der Hand winken. Er ging über die Straße auf ihn zu, der Mann wandte sich aber um und ging, als wäre nichts geschehen, weiter, den Kopf gesenkt, ohne sich umzuwenden und ohne sich anmerken zu lassen, daß er ihm gewinkt habe. – Hat er mir denn auch wirklich gewinkt? – dachte Raskolnikow, ging ihm aber dennoch nach. Als ihn nur noch zehn Schritte von ihm trennten, erkannte er ihn plötzlich und erschrak; es war der Kleinbürger von vorhin, im gleichen Schlafrocke und in ebenso gekrümmter Haltung. Raskolnikow ging in einiger Entfernung hinter ihm, sein Herz klopfte; sie bogen in eine Quergasse ab, jener wandte sich noch immer nicht um. – Weiß er auch, daß ich ihm folge? – fragte sich Raskolnikow. Der Kleinbürger trat in das Tor eines großen Hauses. Raskolnikow ging schnell auf das Tor zu und sah hinein, ob jener sich nicht umschauen und ihm winken würde. Und in der Tat, nachdem er den ganzen Torweg durchschritten hatte und schon in den Hof trat, wandte er sich plötzlich um und winkte ihm scheinbar wieder zu. Raskolnikow trat sofort in das Tor, der Kleinbürger war aber nicht mehr auf dem Hofe. Also ist er soeben die erste Treppe hinaufgegangen. Raskolnikow stürzte ihm nach. Und in der Tat, ein paar Treppen höher ließen sich gleichmäßige, langsame Schritte vernehmen. Seltsam, die Treppe kam ihm so bekannt vor! Da ist auch das Fenster im Erdgeschoß; traurig und geheimnisvoll drang das Mondlicht durch die Fensterscheiben; da ist auch der erste Stock. Ach, das ist ja die gleiche Wohnung, in der die Anstreicher gearbeitet haben! ... Wie hat er es bloß nicht sofort erkannt? Die Schritte des vor ihm gehenden Mannes waren verhallt: – er ist also stehengeblieben oder hat sich irgendwo versteckt. – Da ist auch der zweite Stock; soll er noch weiter gehen? Und wie still es da ist, es ist sogar schrecklich ... Er ging aber weiter. Das Geräusch seiner eigenen Schritte erschreckte und beunruhigte ihn. Gott, wie dunkel! Der Kleinbürger lauert hier sicher irgendwo in einer Ecke. Ach! Die Wohnung steht weit offen; er überlegt und tritt ein. Im Vorzimmer ist es sehr dunkel und leer, keine Seele, als hätte man alles hinausgetragen. Ganz leise, auf den Fußspitzen trat er in die Stube: das ganze Zimmer war von grellem Mondlicht durchflutet; alles war noch beim alten: die Stühle, der Spiegel, das gelbe Sofa und die Bilder in den Rahmen. Der riesengroße, runde, kupferrote Mond blickte gerade zum Fenster herein. – Diese Stille kommt vom Mond – dachte Raskolnikow – er gibt wohl ein Rätsel zum Raten auf. – Er stand da und wartete, er wartete lange, und je stiller der Mond war, um so stärker klopfte sein Herz, es tat ihm sogar weh. Und immer diese Stille. Plötzlich hörte er ein trockenes kurzes Knacken, als hätte man
Weitere Kostenlose Bücher