Verbrechen und Strafe (Übersetzung von Swetlana Geier)
war.
»Du bist ja ernstlich krank, weißt du das?«
Er begann seinen Puls zu fühlen; Raskolnikow entriß ihm aber die Hand.
»Laß das«, sagte er, »ich bin gekommen ... es ist folgendes ... ich habe gar keine Stunden ... ich wollte ... es ist mir übrigens nicht um die Stunden zu tun ...«
»Weißt du was? Du phantasierst ja!« bemerkte Rasumichin, der ihn aufmerksam betrachtete.
»Nein, ich phantasiere nicht ...«
Raskolnikow erhob sich vom Sofa. Als er zu Rasumichin hinaufging, dachte er nicht daran, daß er ihm Auge in Auge gegenüberstehen werde. Doch jetzt erfaßte er, durch die Erfahrung belehrt, daß er in diesem Augenblick am allerwenigsten fähig sei, irgend jemand auf der ganzen Welt Auge in Auge gegenüberzustehen. Seine ganze Galle stieg in ihm auf. Er er stickte beinahe vor Wut über sich selbst, daß er über Rasumichins Schwelle getreten war.
»Leb wohl!« sagte er plötzlich und ging zur Tür.
»Warte doch, warte, du komischer Mensch!«
»Laß das! ...« wiederholte jener und riß wieder seine Hand los.
»Zum Teufel, warum bist du dann hergekommen? Bist du verrückt? Das ist ja ... beinahe beleidigend. Ich lasse dich nicht so ...«
»Also höre: Ich bin zu dir gekommen, weil ich außer dir keinen Menschen kenne, der mir helfen könnte ... anzufangen ... weil du besser, das heißt klüger bist als sie alle und alles erwägen kannst ... Jetzt sehe ich aber, daß ich nichts brauche, hörst du, gar nichts ... weder einen Dienst noch Teilnahme ... Ich will selbst ... allein ... Nun, es ist genug! Laß mich in Ruhe!«
»Aber wart' einen Augenblick, du Schornsteinfeger. Du bist ganz von Sinnen! Von mir aus kannst du tun, was du willst. Siehst du, ich habe keine Stunden, und ich pfeife drauf, doch auf dem Trödlermarkte gibt es den Buchhändler Cheruwimow, dieser ist auch eine Stunde seiner Art. Jetzt gebe ich ihn auch für fünf Stunden in Kaufmannshäusern nicht her. Er gibt so allerlei kleine Sachen und naturwissenschaftliche Bücher heraus, und wie die gehen! Was schon die Titel allein wert sind! Du hast immer behauptet, ich sei dumm; bei Gott, Bruder, es gibt Menschen, die noch dümmer sind als ich! Jetzt macht er sogar Tendenzliteratur; er hat davon zwar keinen blauen Dunst, und ich sporne ihn natürlich an. Hier sind etwas mehr als zwei Bogen deutscher Text – meiner Ansicht nach die dümmste Scharlatanerie; mit einem Wort, es wird hier die Frage untersucht, ob die Frau ein Mensch sei oder nicht. Natürlich wird zuletzt sehr feierlich erklärt, sie sei ein Mensch. Cheruwimow bringt das als Beitrag zur Frauenfrage; ich mache die Übersetzung; er wird diese zweiundeinhalb Bogen auf sechs Bogen breitziehen, wir werden einen prunkvollen Titel, der eine halbe Seite füllen wird, erfinden und es zu fünfzig Kopeken verkaufen. Es findet schon seinen Absatz! Für die Übersetzung bekomme ich sechs Rubel für den Bogen, für das Ganze also an die fünfzehn Rubel, sechs Rubel habe ich mir im voraus bezahlen lassen. Wenn wir damit fertig sind, fangen wir an, ein Buch über die Walfische zu übersetzen, dann haben wir uns im zweiten Band der ›Confessions‹ einige langweilige Klatschgeschichten angemerkt und werden auch sie übersetzen; dem Cheruwimow hat jemand gesagt, Rousseau sei eine Art Radischtschew. Ich widerspreche ihm natürlich nicht, hol ihn der Teufel! Nun, willst du den zweiten Bogen von ›Ist die Frau ein Mensch?‹ übersetzen? Wenn du willst, so nimm gleich den Text, auch Papier und Federn – das wird alles vom Verleger beigestellt – nimm auch die drei Rubel: da ich die ganze Übersetzung für den ersten und zweiten Bogen vorausgezahlt bekommen habe, so kommen auf deinen Teil gerade drei Rubel. Und wenn du mit dem Bogen fertig bist, kriegst du noch drei Rubel. Und dann noch eins: halte es bitte nicht für einen Dienst meinerseits. Im Gegenteil: gleich als du hereinkamst, sagte ich mir, womit du mir nützlich sein kannst. Ich bin erstens in der Orthographie nicht ganz sicher und zweitens im Deutschen oft sehr schwach, so daß ich meistens einfach dichte und mich nur damit tröste, daß es dadurch noch besser wird. Wer kann es aber wissen – vielleicht wird es gar nicht besser, sondern schlechter ... Nimmst du es oder nicht?«
Raskolnikow nahm schweigend die deutschen Textseiten, nahm auch die drei Rubel und ging, ohne ein Wort zu sagen, hinaus. Rasumichin sah ihm erstaunt nach. Als Raskolnikow schon bei der Ersten Linie war, kehrte er um, stieg wieder zu Rasumichin hinauf,
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