Die goldene Meile
EINS
Die Sommernacht schwamm vorüber. Dörfer, reifende Felder, verfallene Kirchen glitten vorbei und vermischten sich mit Majas Träumen. Sie bemühte sich, wach zu bleiben, aber manchmal setzten sich ihre Augenlider durch. Manchmal träumte das Mädchen von den Fahrgästen in der ersten Klasse, die behaglich in ihren Abteilen schliefen.
In der Holzklasse gab es keine Abteile. Die Holzklasse bestand aus einem Gemeinschaftswagen, in dem immer noch ein paar Lampen brannten, und alle hier hatten teil an Schnarchen, gedämpftem Sex, Körpergerüchen und diversen Ehestreitigkeiten. Einige der Leute waren schon seit Tagen im Zug, und allmählich setzte der Überdruss der allzu großen Enge ein. Ein Kartenspiel unter Ölarbeitern, das rund um die Uhr gegangen war, kippte ins Unangenehme und verwandelte sich in Streit und Vorwürfe. Ein Zigeuner ging von Koje zu Koje und bot im Flüsterton die immer gleichen Kopftücher an. Studenten, die auf die billige Tour reisten, waren tief im Reich ihrer Kopfhörer versunken. Ein Pope strich sich Kuchenkrümel aus dem Bart. Die meisten Fahrgäste waren so wenig bemerkenswert wie gekochter Kohl. Ein betrunkener Soldat wanderte auf gummiweichen Beinen im Gang auf und ab.
Trotzdem war Maja die raue Geselligkeit in der Holzklasse lieber als das Reisen in der ersten. Hier passte sie hinein. Sie war fünfzehn Jahre alt, dünn wie ein Strich, in zerrissenen Jeans und einer Bomberjacke, die aussah, als wäre sie aus Pappe. Ihr Haar war in einem befremdlichen Safranorange gefärbt. Ein Korb enthielt ihre irdischen Besitztümer, in einem zweiten war ihr kleines, drei Monate altes Mädchen versteckt, fest in Windeln gewickelt und vom Schaukeln des Zugs eingelullt. Das Letzte, was Maja hätte gebrauchen können, waren die kritischen Augen der Snobs in einem Abteil der ersten Klasse. Nicht, dass sie sich die Fahrkarte dafür hätte leisten können.
Ein Zug, dachte Maja, war eigentlich nichts anderes als eine Gemeinschaftswohnung auf Schienen, und daran war sie gewöhnt. Die meisten Männer trugen während der Reise nur Jogginghosen, Unterhemden und Pantoffeln. Sie hielt wachsam Ausschau nach solchen, die anders gekleidet waren; ein Hemd mit langen Ärmeln konnte die Tätowierungen eines Mannes verbergen, der den Auftrag hatte, sie zurückzubringen. Sicherheitshalber hatte sie sich eine völlig leere Koje ausgesucht. Sie sprach mit keinem der anderen Fahrgäste, und niemand bemerkte, dass das Baby bei ihr war.
Maja dachte sich gern Geschichten über neue Leute aus, aber jetzt war ihre Phantasie von dem Baby in Anspruch genommen, das fremd und zugleich ein Teil ihrer selbst war. Eigentlich war ihr Kind der geheimnisvollste Mensch, den sie je gesehen hatte. Sie wusste nur, dass es perfekt war, durchscheinend und makellos.
Das Baby regte sich, und Maja ging mit dem Korb in den Vorraum am Ende des Wagens. Dort, halb im Freien, umgeben von Fahrtwind und dem Rattern des Zuges, stillte sie das Baby und gönnte sich eine Zigarette. Seit sieben Monaten war sie jetzt drogenfrei.
Der Vollmond begleitete den Zug. Neben den Gleisen erstreckte sich ein Meer von Weizen mit ein paar Wassertanks und der Silhouette eines gestrandeten Mähdreschers. Noch sechs Stunden bis Moskau. Das Baby musterte sie mit ernsten Augen. Maja war von diesem Blick so sehr hypnotisiert, dass sie den Soldaten, der zu ihr herauskam, erst bemerkte, als die Schiebetür sich hinter ihm schloss und er sagte, Rauchen sei nicht gut für das Baby. Seine Stimme brachte sie mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurück.
Er riss ihr die Zigarette aus dem Mund und schnippte sie aus dem Fenster.
Maja nahm das Baby von der Brust und bedeckte sich.
Der Soldat fragte, ob das Baby nicht im Weg sei. Er fand, es störe, und er befahl Maja, es wegzulegen. Aber sie ließ das Kind nicht los, obwohl er die Hand unter ihre Jacke schob und ihre Brust so fest drückte, dass die Milch herausschoss. Seine Stimme klang brüchig, als er ihr sagte, was sie als Nächstes tun solle. Als Erstes müsse sie das Kind weglegen. Wenn nicht, werde er es aus dem Zug werfen.
Maja brauchte eine Sekunde, um zu verarbeiten, was er da sagte. Würde jemand sie hören, wenn sie schrie? Würde er das Kind wie ein unerwünschtes Paket aus dem Fenster werfen, wenn sie sich wehrte? Sie sah es vor sich, wie es irgendwo draußen im Laub lag, wo es niemand je finden würde. Das alles war nur ihre Schuld, dachte sie. Wer war sie denn, dass sie ein so schönes Baby hatte?
Aber bevor
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