Verdi hören und sterben: Ein Roman aus Venedig und dem Veneto (German Edition)
werden.«
Roberto lachte. »Keine Sorge. In meiner Begleitung ist noch niemand verhungert. Ich habe etwas Proviant zusammengestellt, dessen Gewicht in einem umgekehrten Verhältnis zu seiner ausgesuchten Delikatesse steht. Hast du deinen Schlafsack dabei?«
»Natürlich, auch meinen Rucksack und die Bergstiefel.«
»Allora, dann kann ja gar nichts schief gehen. Die Wettervorhersage ist auch gut. Also dann, bis heute Abend. Ciao, Mark.«
»Ciao, Roberto.«
Mark drückte auf die rote Taste. Er hatte das Handy noch in der Hand, als es klingelte. Er zögerte nur kurz, grinste, schaltete das Handy aus und legte es neben sich in die Wiese. Wer auch immer ihn sprechen wollte, er würde sich einige Tage gedulden müssen. Ab jetzt wollte er sich nicht mehr stören lassen. Zu sehr freute er sich auf die Bergwanderung in den Dolomiten, die er mit Roberto schon so lange geplant hatte. Und nach der Tour würde er noch einen kurzen Abstecher an den Gardasee machen. Er hatte seine Großmutter schon einige Monate nicht mehr gesehen. Dabei liebte er die alte Dame von ganzem Herzen. Was, wie er wusste, auf Gegenseitigkeit beruhte. Und außerdem war von seiner Familie bis auf seinen Halbbruder Rudolf, der in München wohnte und den er nur selten sah, nun mal nur noch seine Großmutter am Leben. Seine Eltern waren schon seit Jahren tot. Von seinem Vater gab es nur einige entfernte Verwandte in Schottland, zu denen er keine Beziehung hatte. Er überlegte kurz, ob er am Gardasee anrufen und seinen Besuch ankündigen sollte. Aber dann dachte er, dass es lustiger wäre, seine Großmutter einfach zu überraschen.
Er wachte erschrocken auf und sah auf die Uhr. Da war er doch tatsächlich auf der Liege eingeschlafen. Wenn er sich beeilte, würde er das Ferryboat erreichen, das kurz nach ein Uhr in San Nicoló losfuhr. Wenige Minuten später rollte er in seinem alten Morgan, mit dem er aus England nach Venedig gekommen war, auf die Fähre. Nachdem er den Roadster abgestellt hatte, warf er einen skeptischen Blick auf die auf dem Beifahrersitz liegenden Taschen. Er beschloss, wenigstens den großen Kamerakoffer, den er mit Lederriemen auf den Gepäckständer geschnallt hatte, mit hinauf an Deck zu nehmen. Ansonsten blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Ehrlichkeit der Mitreisenden zu vertrauen. Oben angelangt, setzte er sich direkt an die Reling. Die Fähre hatte bereits abgelegt.
Rechts voraus sah Mark die Grünanlagen des Biennale-Geländes. Von selbst hätten die Venezianer diese Giardini wohl kaum angelegt. Sie sind ein Erbe der für Venedig wenig erfreulichen Herrschaft Napoleons. Der große Korse hatte die Lagunenstadt nach Kräften geplündert. Da war die Anlage dieser Gärten nur eine sehr zweifelhafte Wiedergutmachung.
Mark folgte mit den Augen der Uferpromenade. Kleine weiße Brücken führten über Kanäle, der Glockenturm einer Chiesa war zu sehen. Irgendwo da hinten musste Arsenale sein, wo Venedig einst die größte Schiffswerft der Welt unterhielt und die Galeeren der mächtigen Kriegsflotte auf Kiel legte.
Mark setzte eine Sonnenbrille auf. Wo sonst auf der Welt, dachte er, gibt es eine Autofähre, die vor so eindrucksvoller Kulisse verkehrt? Er sah nach links zur Klosterinsel der Benediktiner mit der grandiosen Kirche San Giorgio Maggiore.
Die Fähre drehte in Richtung Canale della Giudecca. Mark nahm eine Kamera aus seinem Koffer und fotografierte über das Heck die Piazzetta, den Eingang zur Piazza San Marco, mit den beiden Säulen aus dem 12. Jahrhundert, an denen einst die Schiffe festmachten, die aus fernen Ländern ihre Schätze nach Venedig brachten.
Rechts sah er den prachtvollen Palazzo Ducale und links, alles überragend, den fast hundert Meter hohen Campanile von San Marco mit einem goldenen Engel auf der Spitze. An klaren Tagen, hatte Mark gelesen, konnte man von seinem Aussichtsbalkon bis zu den Dolomiten sehen. Der Turm hat eine wechselvolle und dramatische Geschichte hinter sich. Auf das 9. Jahrhundert gehen seine Anfänge zurück. Über lange Zeit diente sein Leuchtfeuer den Seefahrern zur Orientierung. Doch nicht immer war seine Bestimmung so segensreich. Der Turm wurde auch zum Aufhängen von Folterkäfigen zweckentfremdet. Seine heutige Gestalt erhielt er erst im 16. Jahrhundert nach einem Erdbeben. Auf dem Aussichtsbalkon demonstrierte Galileo Galilei dem Dogen sein Teleskop. Jahrhundertelang bestimmten die Glocken des Campanile den Lebensrhythmus der Lagunenstadt. 1902 schließlich
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