Vereister Sommer
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4. April 1999
Ein Mann geht durch den Schnee. Der Schnee unter seinen Füßen bricht, splittert, knirscht. Seit Monaten liegt das eisige Weiß über dem Land, zusammengepresst, verharscht. Jeder Schritt ist zu hören, es dröhnt in seinen Ohren, als stapfe ein mächtiges Wesen durch eine totenstille Winterlandschaft. Manchmal aber gibt der Schnee nach, geräuschlos, morsch und schwach rutscht er dann unter dem Gewicht des Mannes zur Seite, es liegt Tauwetter in der Luft. Die Augen des Mannes überfliegen die leicht abschüssige Dorfstraße, auf der er sich unsicheren Schrittes voranbewegt: Vor keiner Minute noch hat er sie zum ersten Mal in seinem Leben betreten, links und rechts, hinter Zäunen aus Holz oder Draht, Häuser.
Datschen:
Von Moskau aus, mit dem Auto Richtung Smolensk, in einer guten Stunde zu erreichen. Vorbei am Dichterdorf Peredelkino und der kleinen Stadt Moschaisk, in deren Nähe Napoleon 1812 sein russisches Waterloo erlebte. Die Wände der Häuser aus hellen oder nachgedunkelten Balken, verputzten und unverputzten Ziegeln, kein Leben regt sich vor oder hinter den Fenstern, weiße Flächen die Gärten, verblichenes Gras sticht heraus, vergessenes Kraut, frostschwarze Gemüsestauden. Am Ende der Straße füllt ein Birkenwäldchen den niedrig liegenden Horizont aus.
Birken
, denkt der Mann, russische Birken im Winter. Für den Bruchteil einer Sekunde hat er das Bild einer Formation erstarrter Ballettelevinnen vor Augen, so zart und zerbrechlich stehen sie, neben Eichen seine Lieblingsbäume, am Rande des Dorfes zwischen hellblauem Himmel und grauweißem Grund.
Schwanensee
, denkt der Mann, und lacht, ohne eine Miene zu verziehen, lautlos in sich hinein, |10| nur das Geräusch des knirschenden, brechenden Schnees in seinen Ohren: Wenn hier einer tanzt, denkt er, der spürt, wie er beim Gehen schwankt, an der Seite eines anderen, kleineren, feingliedrigen Mannes, in schwarzer Hose, schwarzer Lederjacke und mit schwarzer Baseballkappe auf dem Kopf, der seinen linken Arm in seinen rechten eingehakt hat, damit er nicht stürzt, wenn hier einer tanzt, dann ich: mit Klischees, mit reinen Klischees, noch auf den letzten Metern vorm Ziel. Tschaikowski, Tschechow, Turgenjew, russische Birken, russischer Winter, russische Seele, und in der Supermarkttüte in meiner linken Hand schaukeln Wodka und Kaviar, eingekauft noch in Moskau, auf dem Weg hierher. Aber was weiß ich denn wirklich vom Land des Menschen, dem ich gerade entgegengehe, weil er zu mir gehört wie nur noch ein anderer, weit weg von hier, in einem Raum aus anderen Wörtern und Sätzen, anderen Wintern und Sommern, anderem Licht und anderen Finsternissen, in dem auch ich groß geworden bin, nicht hier, und der mich geprägt hat wie kein anderer auf dieser Erde?
Förslöv
,
den 25. März 1999
Sehr geehrter Wladimir Jegorowitsch,
verzeihen Sie, wenn ich mich auf diesem Wege an Sie wende; aber ich glaube, auch wenn Sie zur Stunde noch nicht davon überzeugt sein mögen, daß ein persönliches Wort von meiner Seite in der Angelegenheit, mit der Sie durch mich seit einigen Jahren konfrontiert werden, die aufrichtigste Form ist, sie zu klären und, wenn möglich, zu einem guten Ende zu bringen. Was aber sollte aus meiner Sicht so unbedingt wie möglich zwischen uns, zwei sich bislang völlig fremden Menschen, geklärt werden? Nun, das Wichtigste, denke ich im Leben eines Menschen: die Herkunft oder Existenz seiner Mutter, seines Vaters, seiner Eltern! Wer meine Mutter ist, weiß ich: Ich bin heute 48 Jahre alt; fast 44 Jahre davon lebte ich mit ihr zusammen oder in ihrer
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Nähe. Die ersten 3 ½ Jahre meines Lebens aber war ich ihr entzogen. In dieser Zeit war sie im Gefängnis, aus dem sie erst 1954 entlassen wurde, amnestiert nach Stalins Tod. Ins Gefängnis gekommen ist sie durch ihre Liebe zu einem sowjetischen Offizier, von dem sie ein Kind erwartete, den sie deshalb heiraten wollte. Doch weil das politisch nicht möglich war, wollte sie mit ihm in den Westen Deutschlands. Dieses Vorhaben wurde dem sowjetischen Geheimdienst, aus welchen Gründen auch immer, bekannt – meine Mutter wurde verhaftet, nach Magdeburg gebracht und dort von einem sowjetischen Militärtribunal wegen »Verleitung zum Landeshochverrat« zu 10 Jahren Arbeitslager verurteilt. Im Magdeburger NKWD-Gefängnis sah sie auch zum letzten Mal jenen sowjetischen Offizier, der mein Vater ist! Es versteht sich von selbst, daß meine Mutter und ich in den
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