Verflixtes Blau!
Haus. Er stürzte, als er das Tor am Fuße der steinernen Treppe öffnete, die durch den terrassenartigen Garten führte. Dann kämpfte er sich wieder auf die Beine und begann den mühsamen Aufstieg, wobei er nach jeder Stufe eine Pause machte, sich an den kühlen Kalkstein lehnte und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, bevor er die nächste Stufe in Angriff nahm. An der Haustür rang er mit der Klinke, und als Madame Gachet ihm öffnete, sank er in ihre Arme.
» Sie bluten«, sagte Madame Gachet.
Vincent betrachtete das Rot an seinen Händen. Eigentlich Purpur, nicht Rot. Ein wenig Braun und Violett. Worte konnten den Farben nie genügen. Farben sollten frei sein von den Fesseln der Worte.
» Purpur, würde ich sagen«, erwiderte Vincent. » Das war ich. Ich war es selbst.«
Abrupt schreckte Vincent hoch, schnappte nach Luft. Theo war da. Er war mit dem ersten Zug aus Paris gekommen, nachdem Dr. Gachet ihm eine Nachricht geschickt hatte.
» Ruhig, Vincent«, sagte Theo auf Holländisch. » Warum? Warum nur, Bruder? Ich dachte, es ginge dir besser.«
» Das Blau!« Vincent packte seinen Bruder beim Arm. » Du musst es verstecken, Theo. Die Blaue, die ich aus Saint-Rémy geschickt habe, die Dunkle. Versteck sie. Sag niemandem, dass du sie hast. Halte sie von ihm fern. Dem kleinen Mann.«
» Sie? Das Bild?« Theo blinzelte Tränen aus seinen Augen. Armer, verrückter, genialer Vincent. Er würde nie gesunden. Niemals.
» Du darfst es niemandem zeigen, Theo.« Vincent krümmte sich vor Schmerz und setzte sich im Bett auf.
» Deine Bilder werden überall ausgestellt, Vincent. Selbstverständlich werden sie ausgestellt.«
Vincent sank zurück und hustete feucht und harsch. Er riss an seinen Hosen.
» Gib sie her. Gib sie mir, bitte. Die Tube mit dem Blau.«
Theo sah eine zerdrückte Farbtube auf dem Nachttisch liegen und gab sie Vincent in die Hand.
» Hier, die möchtest du?«
Vincent nahm die Tube und drückte das allerletzte Ultramarin auf seinen Finger.
» Vincent…« Theo versuchte, die Hand seines Bruders zu nehmen, doch Vincent verschmierte das Blau auf dem weißen Verband um seine Brust, sank zurück und atmete aus, lang und rasselnd.
» So will ich gehen«, flüsterte Vincent. Dann starb er.
Interludium in Blau # 1
Sacré Bleu
D er Umhang der Jungfrau Maria ist blau. Heiliges Blau. Das war nicht immer so. Gegen Anfang des 13. Jahrhunderts bestimmte die Kirche, dass Marias Umhang auf Gemälden, Fresken, Mosaiken, Glasmalereien, Ikonen und Altären blau zu sein habe, und zwar nicht irgendein Blau, sondern Ultramarin, die seltenste und teuerste Farbe auf der Palette eines mittelalterlichen Malers. Das Mineral, aus dem es hergestellt wurde, war wertvoller als Gold. Seltsamerweise findet die Farbe Blau in den elfhundert Jahren vor der Entstehung des Marienkultes in der Kirchenliteratur keinerlei Erwähnung, als hätte man sie absichtlich gemieden. Vor dem 13. Jahrhundert musste der Umhang der Jungfrau in Rot dargestellt werden– der Farbe des heiligen Blutes.
Mittelalterliche Farbenhändler und Färber waren seit der Zeit des Römischen Reiches für Rot gerüstet, hatten jedoch noch keine natürliche Quelle für das Blau gefunden und einige Probleme, der Nachfrage zu entsprechen, die aus der Verbindung der Farbe mit der Jungfrau Maria erwuchs. Manche versuchten sogar, die Glaser der großen Kathedralen zu bestechen, damit sie den Teufel in ihren Fenstern blau darstellten, in der Hoffnung, die Gläubigen in ihrem Sinne zu beeinflussen, doch die Jungfrau Maria und das Sacré Bleu gewannen die Oberhand.
Der Kult um die Jungfrau Maria könnte aus dem Bestreben der Kirche erwachsen sein, die letzten heidnischen Göttinnen-Anbeter zu absorbieren, manche davon übrig gebliebene Verehrer der römischen Göttin Venus, ihres griechischen Pendants Aphrodite und der nordischen Freya. Die Menschen der Antike sahen keinerlei Zusammenhang zwischen der Farbe Blau und ihren Göttinnen. Für sie war Blau nicht einmal eine Farbe, sondern nur eine Schattierung der Nacht, ein Abkömmling vom Schwarz.
Für die antike Welt war Blau der Ursprung der Dunkelheit.
2
Frauen, ein Kommen und Gehen
Paris, Juli 1890
L ucien Lessard half gerade in der Familienbäckerei auf dem Montmartre aus, als ihn die Nachricht von Vincents Tod erreichte. Eine Verkäuferin, die in der Nähe von Theo van Goghs Galerie » Boussod et Valadon« arbeitete, war in die Bäckerei gekommen, um sich etwas für ihre Mittagspause zu holen, und
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