Verflixtes Blau!
überqueren, fiel ein Schuh unter Henris Mantel hervor und landete auf dem Kopfsteinpflaster.
» Nun, sie war unfreundlich zu dir, Lucien. Das darf man sich nicht bieten lassen. Spendier mir was zu trinken und erzähl mir, was unserem armen Vincent zugestoßen ist.«
» Du sagtest, du hättest seit Tagen nichts gegessen.«
» Na, dann spendier mir eben was zu essen.«
Sie speisten am Fenster der Toten Ratte und betrachteten die Passanten in ihren farbenfrohen Sommerkleidern, während Toulouse-Lautrec verzweifelt versuchte, sich nicht erneut zu übergeben.
» Vielleicht ein Cognac, um deinen Magen zu beruhigen«, sagte Lucien.
» Eine ausgezeichnete Idee. Aber ich fürchte, Miesmaries Schuhe sind hin.«
» C’est la vie«, sagte Lucien.
» Ich glaube, Vincents Ableben ist mir auf den Magen geschlagen.«
» Verständlicherweise«, sagte Lucien. Vermutlich hätte auch er sein Mahl in kunterbuntem Schwall erbrochen, wenn er seine Bestürzung über den Tod eines Freundes nach drei ausschweifenden Tagen und Nächten so verdrängen wollte, wie Henri es versuchte. Gemeinsam mit Vincent hatten beide das Atelier Cormon besucht, Seite an Seite mit ihm gemalt, getrunken, gelacht und in den Cafés des Montmartre über Farbenlehre gestritten. Einmal hatte Henri einen Mann zum Duell gefordert, der Vincents Werk beleidigte, und hätte ihn getötet, wäre er nicht zu betrunken gewesen, um tatsächlich zu kämpfen.
Lucien fuhr fort: » Ich war erst letzte Woche bei Theo in der Galerie. Er meinte, Vincent würde malen wie ein Berseker und Auvers täte ihm gut. Er arbeite fleißig. Selbst Dr. Gachet hat ihn nach dem Zusammenbruch in Arles für geheilt erklärt.«
» Ich mochte seine Ideen und seinen Umgang mit Farbe und Pinsel, aber er war immer dermaßen emotional. Wenn er es sich vielleicht hätte leisten können, mehr zu trinken…«
» Ich glaube nicht, dass ihm das geholfen hätte, Henri. Aber wenn seine Arbeit doch gut war und Theo seine laufenden Kosten übernahm, wieso hat er dann…?«
» Eine Frau«, sagte Toulouse-Lautrec. » Wenn eine angemessene Weile vergangen ist, sollten wir Theo in der Galerie besuchen und uns Vincents letzte Werke ansehen. Ich wette, es gibt da eine Frau. Kein Mann bringt sich so einfach um, nurwenn sein Herz gebrochen ist. Wer wüsste das besser als du?«
Lucien spürte einen Schmerz in seiner Brust– seine Erinnerungen und sein Mitgefühl für das, was Vincent erlitten haben musste. Ja, das konnte er verstehen. Er seufzte, starrte aus dem Fenster und sagte: » Weißt du, Renoir meinte immer, sie sind alle ein und dieselbe Frau. Ein Ideal.«
» Du bist nicht in der Lage, ein Gespräch zu führen, ohne deine Kindheit im Umfeld der Impressionisten zu erwähnen, oder?«
Lucien wandte sich seinem Freund zu und grinste. » So wie du nicht in der Lage bist, unerwähnt zu lassen, dass du als Graf auf die Welt gekommen und auf einer Burg aufgewachsen bist.«
» Wir alle sind Sklaven unserer Vergangenheit. Ich sage nur, wenn wir in van Goghs Vergangenheit graben, wirst du sehen, dass im Herzen seiner Krankheit eine Frau wohnt.«
Lucien schüttelte sich wie ein Hund, als könnte er so die Erinnerung und die Trauer in diesem Gespräch loswerden. » Hör mal, Henri, van Gogh war ein ehrgeiziger Maler, talentiert, aber labil. Hast du je mit ihm gemalt? Er hat die Farbe gegessen. Ich war gerade dabei, die Farbe einer moulin anzumischen, und als ich zu ihm hinübersehe, hat er eine halbe Tube Färberröte auf den Zähnen.«
» Vincent hatte ein Faible für einen guten Roten«, sagte Henri grinsend.
» Monsieur«, sagte Lucien. » Ihr seid ein schrecklicher Mensch.«
» Da gebe ich dir recht…«
Toulouse-Lautrec hielt inne und stand auf, mit Blick zum Fenster hinaus, über Luciens Schulter hinweg.
» Weißt du noch, dass du mich vor Carmen gewarnt hast?«, sagte Henri und legte Lucien eine Hand auf die Schulter. » Du meintest, mich von ihr loszusagen, sei das Beste für mich, egal, wie mir dabei zumute war.«
» Wie kommst du denn jetzt darauf?« Lucien drehte sich auf seinem Stuhl um, weil er wissen wollte, was Henri betrachtete, und sah einen Rock– nein, eine Frau, draußen auf der Straße, in einem veilchenblauen Kleid, mit passendem Schirm und Hut. Eine schöne, dunkelhaarige Frau mit atemberaubend blauen Augen.
» Lass sie gehen«, sagte Henri.
Augenblicklich war Lucien auf den Beinen und stürzte zur Tür hinaus.
» Juliette! Juliette!«
Toulouse-Lautrec sah, wie sein Freund
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