Verführerischer Dämon: Roman (German Edition)
Bruder«, antwortete er. Sein Mund wurde ein wenig weicher, doch der harte Ausdruck in seinen Augen blieb.
Was Alexandrine ziemlich unheimlich fand.
» Was sollte ich denn sonst sein, Alexandrine?« Seine Stimme klang sanft, voller Zuneigung.
Doch Alexandrine war sicher, dass mehr hinter dieser Frage steckte. Wenn doch bloß Maddy hier wäre! Maddy wusste immer, was zu tun war. Noch wichtiger: Maddy würde wissen, was sie besser nicht tun sollte. Ihre beste Freundin wusste eine verdammte Menge mehr als sie selbst über dieses Zeug.
Die Video-Türsprechanlage summte und erschreckte Alexandrine zu Tode, weil sie immer gedacht hatte, sie funktioniere nicht.
Dann klingelte Harshs iPhone erneut. Es hörte sich an wie ein U-Boot-Sonar.
» Geh nicht dran, Harsh.« Sie kannte ihn. Er war ihr großer Bruder, und sie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er ihr etwas Böses antun könnte. Wäre er gekommen, um sie zu töten, dann wären ihre Vorahnungen sehr viel klarer.
Oder?
Es war sogar möglich, dass ihre Vorahnung gar nichts mit Harsh zu tun hatte. Dass alles nur ein großer Zufall war. Doch das glaubte sie nicht.
» Bitte, geh nicht dran«, wiederholte Alexandrine. » Lass es dieses eine Mal klingeln.«
» Ich muss.« Harsh zog das iPhone aus seiner Tasche, berührte den Bildschirm und sagte: » Noch fünf Minuten.« Er berührte den Bildschirm erneut, sah sie an und fügte hinzu: » Ich bin dein Bruder, Alexandrine. Nichts kann das ändern.« Er hielt ihrem Blick stand. » Nicht im Geringsten.«
» Mein Bruder…«, sagte sie leise, als er den Bildschirm ein weiteres Mal berührte. Mehrere Symbole erschienen. » Was sonst? Mein Bruder.«
Und plötzlich fühlte sie sich nicht mehr wie eine junge Frau von sechsundzwanzig Jahren, sondern wie ein verängstigtes sechsjähriges Kind. Alexandrine versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang ihr nicht. Dafür war dieser Abend einfach ein bisschen zu stressig gewesen.
» Alexandrine…« Seine Hand schloss sich um das iPhone. Ziemlich fest. » Ich bin nicht hergekommen, um dir wehzutun. Glaub mir das.«
Sie glaubte es ja. Wirklich. » Wo bist du die ganze Zeit gewesen?«, wollte sie wissen, doch er antwortete nicht. » Mom und Dad haben eine Trauerfeier für dich abhalten lassen. Sie war sehr schön. Ergreifend. Sie hätte dir gefallen. Alle haben geweint. Alle waren gerührt.«
Sie selbst war damals knapp sechzehn gewesen. In einem schwierigen Alter. Sehr schwierig. Und sie konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie heftig sie ihren Bruder vermisst hatte. Nachdem die Polizei zu dem Schluss gekommen war, dass er tot sein musste, auch wenn es keine Leiche gab, war ihre Familie… einfach auseinandergebrochen. In lauter winzig kleine Stücke zersplittert. Keiner von ihnen hatte sich jemals wieder vollkommen davon erholt.
» Ich bin sicher, dass die Feier sehr schön war«, erwiderte Harsh mit flacher Stimme.
Alexandrine zeigte mit dem Finger auf ihn. Da sie sicher war, dass Harsh keine unmittelbare Gefahr für sie bedeutete, beschloss sie, noch einmal nachzuhaken, was seine Auferstehung von den Toten betraf.
» Du kannst nicht so einfach wieder in meinem Leben auftauchen, ohne ein Wort der Erklärung«, sagte sie.
Er seufzte, doch als er ihr dann antwortete, lag wieder dieser harte Glanz in seinen Augen. » Ich versuche, dich zu retten, Alexandrine.«
» Um mich zu retten, kommst du zehn Jahre zu spät, Harsh.« Wow. Das hatte viel vorwurfsvoller geklungen, als sie beabsichtigt hatte. Aber, nun ja, sie war verärgert. Und entnervt.
» Gratuliere, du hast überlebt«, sagte er.
» Was ganz bestimmt nicht dir zu verdanken ist.
Sein Blick ging in die Ferne. Millionen von Kilometern. Er hatte ihr immer noch nicht verraten, wo er all die Jahre über gewesen war. Wieso nicht?
Als Alexandrine ihren Bruder zum letzten Mal gesehen hatte, wirkte er wie aus dem Ei gepellt: Anzug und Krawatte, das Haar kurz und ordentlich. Vor zehn Jahren hatte er stets einen Pieper am Gürtel getragen, und das verdammte Ding war ständig losgegangen.
Und jetzt? Verschwunden war der professionelle Look, jetzt sah er kein bisschen mehr aus wie ein erfolgreicher Arzt. Lief im eher uncoolen Schmuddel-Outfit herum: verblichene Jeans, zerrissenes Shirt und abgenutzte Arbeitsstiefel aus Leder, die ihm nicht richtig zu passen schienen. Als gehörten sie jemand anderem. Das Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und der Umfang seiner Oberarme ließ vermuten, dass
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