Vergiftet
einzige Chance.
So langsam und still wie möglich geht er zur Tür und sieht, wie der Mann sich nach vorn beugt, kann aber nicht hören, was er sagt. Thorleif hält die Luft an und geht mit winzigen Schritten rückwärts. Als er den Mann nicht mehr sehen kann, dreht er sich um und kneift die Augen zu, als könnte er damit verhindern, dass die Tür quietscht. So lautlos wie nur möglich zieht er die Tür auf und tritt in einen helleren Raum, in dem zahlreiche Gemälde an den Wänden hängen. Er schließt die Tür vorsichtig hinter sich. Ohne sich umzudrehen, beginnt er zu gehen, erst langsam, dann immer schneller, bis er schließlich rennt.
Er läuft an einer grauen Treppe vorbei, die sich in einen rechten und einen linken Arm teilt und nach unten in einen Saal führt, dann rennt er, immer den Exit-Schildern folgend, an einer Bank, zwei Stühlen und einem Kieferntisch vorbei, die vor einem Fenster stehen. Es folgt ein Flur ohne Fenster, an dessen Ende aber eine Tür ist. Er reißt sie auf und tritt keuchend nach draußen in die Abendluft.
Rechts liegt ein schmaler Durchgang, von dem grüne Türen mit roten Rahmen zu den Appartements führen. Im hinteren Teil des Korridors wird es immer dunkler. Nicht in diese Richtung, sagt Thorleif zu sich selbst. Du weißt ja nicht, ob es am anderen Ende weitergeht. Stattdessen tritt er auf den geschotterten Vorplatz, sieht links über sich Hunderte von Hütten und das Bergmassiv, das endlich den Nebel abgeschüttelt hat. Er läuft an ein paar Hütten vorbei und kommt schließlich auf den Weg, der in die eine Richtung hinunter zur Tankstelle, in die andere hinauf nach Presttun führt. Nach unten kann ich nicht, denkt er. Der Mann kann jeden Augenblick aus dem Hotel kommen, und in dem offenen Gelände bin ich leicht zu entdecken. Aber weiß er, dass ich hier bin? Oder ist das einfach ein Schuss ins Blaue?
Dann fallen ihm seine Jeansjacke und der Laptop wieder ein. Mia muss mich erkannt haben, denkt Thorleif, falls der Mann ihr ein Bild gezeigt oder eine Beschreibung gegeben hat. Vielleicht sieht sie dem Mann aber auch an, dass er ein Verbrecher ist. Schließlich hat sie gesagt, sie hätte einen Blick für Gesichter. Vielleicht zieht er einfach auf Nimmerwiedersehen weiter?
Thorleif flucht innerlich. Es ist Samstagabend. Der letzte Zug ist sicher längst weg. Dann sieht er nach oben zu Einars Hütte und beginnt zu laufen.
Ørjan Mjønes sieht das Mädchen an der Rezeption eindringlich an.
»Ich bin mir nicht sicher«, sagt sie nervös, wobei ihr Blick über seine Schulter huscht. Mjønes dreht sich um, sieht einen verlassenen Laptop auf einem Tisch stehen. Der Bildschirm zeigt zu ihm. Auf dem Sofa daneben liegt eine dünne Jeansjacke. Er starrt einen Augenblick lang darauf, ehe er zum PC geht, sich über ihn beugt und den Artikel liest, der auf dem Bildschirm angezeigt wird.
Es geht darin um Thorleif Brenden.
Er ist hier, denkt Mjønes und wirft einen Blick auf die Jacke. Dieser Idiot ist hier, er muss gerade eben noch hier gesessen haben. Mjønes tritt wieder an den Tresen.
»D… doch, vielleicht ist er das«, sagt sie und deutet in die Lobby. »Er heißt Einar, er ist eben auf die Toilette gegangen.«
Einar, denkt Mjønes und sieht sich um. Der Flur ist leer. Er wendet sich wieder dem Mädchen zu und mustert sie einen Moment lang. Dann bedankt er sich und geht mit raschen Schritten an dem Klavier vorbei. In der Toilette findet er nur zwei Urinale, zwei Waschbecken und eine geschlossene Toilettenkabine. Mjønes reißt die Tür auf, aber die Kabine ist leer.
Er geht wieder auf den Flur, wirft einen Blick ins Restaurant und sieht ein einzelnes Paar in ein Gespräch vertieft an einem der Tische sitzen. Von Brenden keine Spur. Er muss mich gesehen haben, denkt Mjønes. Sonst wäre er doch auf der Toilette gewesen? Außerdem hätte er seine Jacke mitgenommen. Mjønes geht wieder auf den Flur und entdeckt die Tür zur Galerie. Diesen Weg muss Brenden genommen haben, denkt er. Einen anderen Fluchtweg gibt es nicht.
Mjønes folgt den Exit-Schildern durch die Galerie bis draußen vor die Tür. Er schaut sich um. Brenden ist nirgends zu sehen, nur eine Menge Gebäude und Hütten, überall Hütten. In diesem Moment klingelt sein Telefon.
»Ja?«
»Hallo, ich bin’s«, sagt Flurim Ahmetaj. »Warum flüsterst du?«
»Weil ich ihm dicht auf den Fersen bin. Nummer eins ist in Ustaoset.«
»Das passt perfekt. Einer der Facebook-Freunde von Nummer eins heißt Einar Fløtaker. Seine
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