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Vergiftet

Vergiftet

Titel: Vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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Wirklichkeit verrutscht.
    Guri Palme dreht sich nach hinten um.
    »Alles in Ordnung, Toffe?«
    Er zuckt zusammen, als er ihre Stimme hört. »J-ja«, antwortet er.
    »Sicher? Du siehst gar nicht gut aus.«
    Thorleif antwortet nicht. Er versucht, Tore Pullis Augen zu vergessen, aber das ist unmöglich. Sie waren mit einem Mal so kalt und still, als hätte sich ein feuchter Schleier davorgeschoben. Speichel lief ihm aus dem Mund, vermischt mit weißem Schaum. Seine Hände fingen an zu zittern, und dieses Zittern wanderte dann wie ansteckende Spasmen von einem Körperteil zum nächsten. Schließlich kippte er zur Seite, blieb auf dem Boden liegen und zuckte noch ein paar Sekunden, ehe die Stille sich wie eine Decke über ihn legte.
    »Wir müssen damit rechnen, im Laufe des Tages zur Vernehmung einbestellt zu werden«, fährt Palme fort.
    Vernehmung, denkt Thorleif und spürt eine flammende Hitze im Gesicht. Er wird es im Leben nicht schaffen, der Polizei eine Lügengeschichte aufzutischen. Seine Stimme wird zittern, sein Blick flackern, und natürlich werden sie sich fragen, weshalb er so nervös ist. Weitere Vernehmungen werden folgen. Und irgendwann wird er zusammenklappen. Was das bedeutet, ist ihm nur allzu klar.
    Der Mann in der schwarzen Lederjacke hat gesagt, er solle danach direkt nach Hause gehen, alles würde weiterlaufen wie gehabt. Aber nichts ist wie gehabt. Er hat einen Menschen getötet. Und welche Garantie hat er, dass sie ihn jetzt, nachdem er seinen Job erledigt hat, in Ruhe lassen? Thorleif hat das Gesicht des Mannes gesehen und weiß, dass dieser Mann gemeinsam mit anderen Pullis Tod geplant hat. Glauben die wirklich, dass die Drohungen gegen Thorleifs Frau und Kinder ausreichen, damit er die Klappe hält? Was, wenn die Polizei ihn durchschaut und er keine Wahl hat?
    Im Park vor dem Polizeipräsidium sieht Thorleif einen dünn bekleideten Mann mit asiatischem Aussehen, der mit seinem Hund Gassi geht. Der Mann erinnert Thorleif an eine Wanderung im Kaukasus. Als sie Xinaliq in Aserbaidschan erreichten, wurden sie von kläffenden Hütehunden begrüßt. Den Hirten, der unter einer Plane hervorgelaufen kam, kümmerte es wenig, dass sie mit Steinen nach seinen Hunden warfen, um sie sich vom Leib zu halten. Der zahnlose Mann lud sie unter seine Plane zu einer Tasse Tee ein, ehe er auf einem Eimer zu trommeln begann und ein Hirtenlied sang.
    Thorleif blinzelt. Es gibt so viel, was er noch nicht getan hat, so viel, was er nicht gesehen hat. So viel, was er seinen Kindern noch nicht gezeigt hat.
    Ole Reinertsen fährt in die TV 2-Garage und stellt den Wagen ab.
    Thorleif steigt als Letzter aus. »Geht schon mal vor«, sagt er und knallt die Tür zu.
    Guri Palme dreht sich zu ihm um. »Wo willst du hin?«
    »Ich muss … nur schnell was aus meinem Auto holen.«
    Sie mustert ihn kurz und nickt. Thorleif geht denselben Weg zurück, den sie mit dem Wagen gekommen sind, bis er wieder im Freien steht. Das Gebäude auf der gegenüberliegenden Straßenseite spendet ein paar Quadratmeter Schatten. Er denkt an Elisabeth und an die Kinder und an das, was er jetzt tun muss. Und ihm geht durch den Kopf, wie viel schwerer es manchmal ist zu leben als zu sterben.
    48
    Henning starrt voller Verachtung auf den Bildschirm. Der plötzliche Todesfall steht ganz oben auf der Seite. Riesige weiße Schlagzeilen auf schwarzem Hintergrund. Keine Fotos. Auf den Plätzen für die breaking news sind nie Fotos, nur ein kleines Feld in der oberen linken Ecke, auf dem in kleinen roten Versalien » IN DIESEM MOMENT« steht.
    Er hat das Gefühl, von den Wänden erdrückt zu werden. Also steht er auf und verlässt die Wohnung, läuft eilig die Treppe hinunter, nachdem er sorgfältig abgeschlossen hat.
    Er rennt gegen eine Hitzewand, als er ins Freie tritt. Im Innenhof sitzen drei Jugendliche auf einer Bank unter einem der Fenster. Sie rauchen und sehen ihn an, als wäre er ein Marsmensch. Henning reagiert nicht auf ihre Blicke, geht einfach an ihnen vorbei, raus auf die Straße in den trockenen Sommerstaub. Er passiert die alte Segeltuchfabrik, biegt in den Fossveien ein. Autos schieben sich an ihm vorbei. Ein erwachsener Mann auf einem Skateboard grinst breit, als Henning einen Schritt zur Seite macht und um ein Haar in einen Hundehaufen tritt.
    Er findet einen freien Platz auf dem Rasenhang oberhalb der Cubabrücke und starrt auf den Akerselva, der träge dahinströmt.
    Irgendwo lacht jemand, es wird Bier getrunken, gegrillt. Oder man

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