1253 - Angst vor dem eigenen Ich
Das sind wirklich Momente, wie man sie sonst nur im Film erlebt, wenn der Held nichts ahnend in sein Zimmer kommt und mit einer derartigen Szene konfrontiert wird.
So etwas gibt es ja. Popstars können davon ein Lied singen, wenn es irgendwelchen Groupies gelungen ist, sich in die Zimmer der Promis zu schmuggeln, aber ich war kein Popstar, ich war auch nicht prominent, und Julie Ritter war nicht der Typ, der sich nackt in das Bett eines Mannes legt, auch wenn dieser - so wie ich - ein Bekannter ist.
Und trotzdem lag sie da!
Ich war erst mal konsterniert. Sprechen konnte ich nicht. Es mussten einige Sekunden verstreichen, bis ich in der Lage war, die gesamte Wahrheit zu erfassen, sodass ich mich auf Einzelheiten konzentrieren konnte.
Ich hatte sie bisher nicht nackt gesehen und musste zugeben, dass sie eine gute Figur hatte. Die allerdings interessierte mich momentan nicht so sehr. Nicht weil ich etwas dagegen gehabt hätte, nein, in einem derartigen Fall war etwas anderes wichtiger. Man kann bestimmte Botschaften auch durch den Ausdruck des Gesichts signalisieren, und deshalb war das in diesem Fall wichtig für mich.
Wollte sie mich ansprechen? Wollte sie mich hereinbitten? Wollte sie, dass ich zu ihr ins Bett stieg?
Deutete sie das durch ein Lächeln eventuell an?
Nein, das war hier nicht der Fall. Ihr Gesichtsausdruck blieb ungewöhnlich ausdruckslos. Er kam mir auch sehr blass und zudem angestrengt vor, was mich auch etwas wunderte.
Ich rang mir ein Lächeln ab, was Julie allerdings nicht erwiderte. Das Gesicht blieb ohne Ausdruck.
Noch stand ich auf der Schwelle, und auch in den folgenden Sekunden rührte ich mich nicht vom Fleck. Aber ich sprach sie mit leiser Stimme an. »Julie…«
Sie antwortete nicht. Sie tat überhaupt nichts. Sie blieb nur liegen und hielt mir ihren Kopf zugewandt.
»Julie!« Diesmal hatte ich die Stimme erhoben und drängte sie quasi zu einer Antwort. Auch jetzt hatte ich keinen Erfolg. Julie Ritter war zu einer Statue geworden und blieb es auch. Kein Wort wehte aus ihrem Mund. Sie sah mich wohl, aber sie traf keine Anstalten, auch mich zu begrüßen. Mein Erscheinen war nicht wichtig. Sie interessierte sich nicht dafür, sondern schaute nur in Richtung Tür, wo ich mich aufhielt und noch immer von den Socken war.
Aber ich hatte mich wieder soweit gefangen, dass ich nachdenken konnte. Dass Julie Ritter nackt in meinem Bett lag, war keine Halluzination. Da hatte sie sich wohl eine Überraschung ausgedacht. Sie war ausgeflippt als Reaktion darauf, was wir alles erlebt und auch durchlitten hatten.
Die letzten beiden Tage waren mehr als stressig gewesen für Julie, Suko, die Templer und mich. Irgendwie musste sie den Stress auch abbauen, und sie tat es wohl auf diese Art und Weise.
Sie lag zur Seite gedreht, leicht aufgestützt, und sie schaute mich unverwandt an. Aber sie lächelte nicht. Es gab keine Aufforderung an mich, näher heranzukommen, und genau das machte mich ebenfalls misstrauisch.
Ich verfolgte das Kribbeln auf meinem Rücken, und eine innere Stimme sagte mir, dass trotz des so klaren Bildes hier nicht alles mit rechten Dingen ablief. Da kam noch etwas nach, das war nur der Anfang, ich ahnte es. Aber ich wollte nicht so lange warten, bis Julie reagierte, ich musste die Dinge selbst in die Hand nehmen.
Wie lange ich auf der Schwelle gestanden hatte, war mir nicht klar. Das hier waren eben Momente, in denen man die Zeit einfach vergisst. Nur wollte ich nicht noch länger warten, gab mir einen Ruck und ging den ersten Schritt nach vorn.
Ich hatte ihn bewusst zögernd und langsam zurückgelegt, weil ich davon ausging, dass Julie darauf reagieren würde, aber den Gefallen tat sie mir nicht. Sie blieb auf dem zerwühlten Bett liegen wie eine Puppe, deren starrer Blick auf mich gerichtet war, ohne mich direkt zur Kenntnis zu nehmen.
Noch einmal versuchte ich es mit einer Ansprache. Ich trat zwei weitere Schritte auf das Bett zu, rief dabei halblaut den Namen der jungen Frau und erlebte das Gleiche - nämlich nichts!
Sollte ich mich ärgern, wundern? Sollte ich sauer sein? Im Normalfall hätte einer der Vergleiche schon gepasst, doch das hier lag irgendwie anders. Ich ging inzwischen davon aus, dass diese Szene nicht mit rechten Dingen zuging. Irgendetwas war mit Julie Ritter geschehen, das ich nicht überblicken konnte. Sie hatte sich auch nicht verändert, das musste ich ebenfalls zugeben. Julie war so geblieben wie ich sie kannte, und trotzdem stimmte da was
Weitere Kostenlose Bücher