Vergiftet
nichts Schlechtes über Verstorbene zu denken, er ist sich aber trotzdem sicher, dass Tore Pulli etwas wusste. Und bei den vielen Leuten, die er kannte, ist es nicht unwahrscheinlich, dass das außer ihm auch noch andere Leute wussten. Um das herauszufinden, muss er Pulli besser kennenlernen.
»Pulli hat die ganze Zeit seine Unschuld beteuert«, sagt Henning.
Iver schnaubt und lächelt milde. »Henning, ich bitte dich«, sagt er.
»Was, wenn er die Wahrheit gesagt hat?«
»Ein Typ wie Tore Pulli? Das glaube ich nicht. Immerhin hat er für ganze neunzehn Minuten keine Erklärung, Henning.«
»Ja, das ist mir schon klar, aber es gibt andere, höchst dubiose Details in seinem Fall.«
»Was, zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass ein ehemaliger Geldeintreiber, der nicht einmal in seinen aktiven Zeiten einen Schlagring benutzt hat, ausgerechnet zu einem friedlich geplanten Treffen sein Museumsobjekt mitgebracht haben soll.«
»Er war halt etwas eingerostet im Oberstübchen.«
»Also ehrlich, Iver.«
»Warum denn nicht?«
»Ich sage ja nicht, dass er es nicht getan hat, aber es kann ja nicht schaden, sich das Ganze etwas genauer anzusehen. Irgendetwas stinkt an der Sache.«
Iver kratzt sich die lichten Bartstoppeln.
»Das dauert hundert Jahre, Henning. Und wir wissen noch nicht einmal, ob es etwas bringt. Da gibt es dringlichere Baustellen.«
»Ja, schon, aber deswegen kann man doch ein wenig recherchieren. Nebenbei, sozusagen.«
Iver sieht Henning mit einem skeptischen Zug um die Augen an.
»Woher das plötzliche Interesse?«, fragt er nach einer kurzen Pause.
Henning antwortet nicht gleich. »Weil ich das Gefühl habe, dass das eine spannende Story ist«, sagt er schließlich. »Aber … ich glaube auch, dass ich den Knoten nicht allein entwirren kann.«
Henning hält Ivers kritischem Blick stand. Eine Weile sagt keiner von beiden etwas.
»Außerdem schuldest du mir noch einen Gefallen«, sagt Henning schließlich.
»Was willst du damit sagen?«
»Der Fall Henriette Hagerup«, sagt Henning. »Den hab ich dir überlassen. Und ich weiß, dass dir das einige Türen geöffnet hat. Wenn ich mich nicht irre, hast du danach zwei Jobangebote bekommen. Oder sind im Laufe des Sommers noch weitere dazugekommen?«
Iver starrt Henning fassungslos an.
»Ist schon in Ordnung«, fährt Henning fort. »Ich werde an der Sache arbeiten, egal, ob du mir hilfst oder nicht.«
Iver senkt den Blick. Es entsteht eine lange, unangenehme Pause.
Am Ende nickt er.
59
Thorleif wird mit einem Ruck wach. Er sieht sich um, weiß aber nicht, wo er ist.
Dann erinnert er sich wieder.
Er schlägt die Daunendecke zur Seite und setzt sich auf, schiebt die Beine über die Bettkante und stellt die Füße auf den dunkelbraunen Holzboden. Neben dem Bett, das unter einem kleinen Fenster mit weißen Gardinen steht, die ohne viel Erfolg das Tageslicht abschirmen, steht ein gelber Nachttisch. Thorleif fährt sich mit den Händen über das Gesicht und sieht sich nach seinem Handy um, bis ihm einfällt, dass er das ja entsorgt hat. Er hat keine Ahnung, wie spät es ist, aber es muss Morgen sein. Zu Hause würde er jetzt ins Bad schlurfen und mit einer Dusche seine Lebensgeister wecken.
Zu Hause.
Was Elisabeth und die Kinder jetzt wohl machen, fragt er sich. Vielleicht ist Julia ja im Kindergarten und spielt und hat Spaß. Und Pål tobt sich in der Sportstunde aus, wie jeden Freitagmorgen. Elisabeth wird vermutlich nicht bei der Arbeit sein. Wie er sie kennt, fehlt ihr dazu die Kraft. Sollte er recht haben, kann er wieder nicht Kontakt zu ihr aufnehmen. Sie zu Hause anzurufen, traut er sich nicht.
Thorleif geht ins Wohnzimmer, zieht vorsichtig eine Gardine zur Seite und schaut aus dem Fenster. Die Hütte liegt an einem Hang mit prachtvollem Ausblick über Ustaoset und den Ustetind am Ende des Sees und des offenen Terrains. Es tut gut, die Augen über dem Horizont ruhen zu lassen. Er sieht einen winzigen Flieger, der Kondensstreifen hinter sich herzieht. Jede Menge Vögel. Ein Auto rollt über die schmale graue Asphaltspur. Zwischen der Tankstelle und dem Hotel spaziert ein einsamer Mensch.
Obgleich Thorleif nicht hungrig ist, weiß er, dass er bald etwas essen muss. Es nützt ihm wenig, wenn Kopf und Körper nicht funktionieren. Mit noch müden Schritten schlurft er in die Speisekammer und überprüft die Vorräte, findet aber nicht viel Verlockendes. Ein paar Dosen Fleischeintopf. Erbsen mit Speck. Ananas in der Dose. Das reicht
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