Vergiftet
Stadt war es stockfinster. Rechts und links der Straße befanden sich einfache Hütten, und plötzlich lag vor ihnen auf der Straße ein Steinhaufen, der sie dazu zwang anzuhalten.
Und dann kamen etwa zwei Dutzend Männer auf ihren Wagen zu. Macheten funkelten im Scheinwerferlicht. Thorleif sah Greverud an und hoffte auf seine jahrelange Erfahrung in den Krisengebieten der Welt. Aber auch Greverud wusste nicht, wie sie sich verhalten sollten. Nach vorn und hinten war der Fluchtweg versperrt. Am Steuer saß ein dunkelhäutiger Fahrer, den sie für diese Fahrt angeheuert hatten. Glücklicherweise gehörte er einem neutralen Stamm an, ansonsten wären er – und sie gleich mit – wahrscheinlich zerhackt worden. So durften sie passieren.
Am nächsten Tag fuhren sie zu der Kirche. Sie sprachen mit zwei jungen Männern, die behaupteten, Zeugen des Massakers gewesen zu sein. Ohne dass Thorleif oder Greverud etwas bemerkte, waren sie plötzlich von zwanzig Männern umstellt. Der exotische Besuch war spannend, ebenso die Kamera und das Mikrofon.
Dann gab es einen Knall. Und noch einen. Kugeln zischten über ihre Köpfe hinweg, und es brach Panik aus. Greverud signalisierte Thorleif, das Weite zu suchen, aber die einzigen Fluchtwege führten in die Richtung des Schützen oder direkt in den Busch. Die Männer, mit denen sie gesprochen hatten, liefen dorthin. Greverud zog Thorleif mit sich zum Wagen und suchte dort Deckung.
Der Schütze kam näher. Ein paar kurze, hektische Sekunden lang blieben sie wie erstarrt sitzen. Sollten sie in die Richtung fahren, aus der die Schüsse kamen, oder das Risiko eingehen, den Menschen zu folgen, denen die Jagd galt? Sie entschieden sich, dem Schützen entgegenzufahren und sich als Weiße zu erkennen zu geben. Zwei, drei Meter vom Wagen entfernt blieb der ausgerechnet mit einer norwegischen AG -3 bewaffnete Mann stehen. Keine Fluchtmöglichkeit. In diesem Augenblick war Thorleif sich sicher, sterben zu müssen. Es würde den Mann drei Sekunden kosten, sie niederzumähen. Vielleicht weniger.
Aber statt zu schießen, legte er sich hinter dem Wagen auf die Erde. Thorleif filmte, wie der Mann auf die Männer schoss, die sie gerade interviewt hatten. Die Bilder wurden später am Tag in den TV 2-Nachrichten gezeigt. Das Ganze war die persönliche Blutrache eines Soldaten von einem anderen Stamm. Die Todesangst, die Thorleif in dem Moment empfunden hatte, als er nicht abschätzen konnte, ob der Mann sie erschießen würde oder nicht, war unmöglich zu beschreiben. Er versuchte es, später, mit Stift und Papier und in Gesprächen mit anderen, ohne dass es ihm jemals gelungen wäre. Es war alles so entsetzlich schnell gegangen.
Als junger Mann hatte er einmal in einem Auto gesessen, das bei über hundert auf der Autobahn ins Schleudern geraten war. Sekunden später stand das Auto mit zersplitterten Fenstern in einem Gestrüpp aus Zweigen und Bäumen. Auch da hatte er nichts gedacht, bis die Situation vorbei war.
Im weiteren Verlauf des Tages waren sie zu einem Krankenhaus gefahren, wo sie einen Mann filmten, dessen halbes Gesicht nach einem Säureangriff verätzt war. »Zeigt das der Welt«, hatte er gesagt. »Zeigt allen, was hier geschieht.« In solchen Augenblicken verstand Thorleif, dass seine Arbeit einen Sinn hatte, dass es wichtig war, der Welt die Grausamkeiten zu erklären, sie zu zeigen und öffentlich zu machen, damit die Weltgemeinschaft eingreifen konnte.
Wenig später kamen zwei Friedenspreisträger in die Gegend, um zu vermitteln. Der Konflikt wurde gelöst. Das war sicher nicht das Verdienst der Fotos, die Thorleif geschossen hatte, aber vielleicht hatten auch sie dazu beigetragen, ein paar Menschenleben zu retten. Als er einige Tage nach seiner Rückkehr ins Parlament geschickt wurde, um ein paar Kommentare von Oppositionspolitikern aufzunehmen, die mit den Straßen in Norwegen unzufrieden waren, kam ihm das Kotzen.
Heute steht keine Fahrt nach Eldoret an, denkt Thorleif, als er sich einen Platz an einem der freien Tische in der technischen Abteilung in der dritten Etage sucht. Keiner der anderen Produzenten oder Bildredakteure ist da. Ein ruhiger Tag im Haus ist auch nicht zu verachten.
Thorleif geht ins Intranet und überprüft im DeskPlanner, ob er im Laufe des Tages für etwas Bestimmtes eingeteilt ist. Vorläufig sieht es ruhig aus, aber er weiß, dass sich das rasch ändern kann.
»Hi, Toffe.«
Thorleif dreht sich um. Guri Palme betritt mit der immer gleichen
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