Vergiftet
Wie lange dauert es noch, bis sein Fall neu verhandelt wird?«
»Lassen Sie mich nachsehen …«
Seine Finger blättern durch einen Kalender.
»Wir fangen nächste Woche an. Warum? Wollen Sie im Vorfeld etwas darüber bringen?«
»Um ehrlich zu sein, weiß ich es noch nicht so genau. Aber wenn ich Ihnen dazu eine Frage stellen dürfte, ganz off the records ? Ist er schuldig?«
Olsvik lacht wieder. »Sie wissen genau, dass ich darauf nicht antworten kann, Juul.«
»Haben Sie ihn nie gefragt?«
»So etwas frage ich meine Klienten grundsätzlich nicht. Jeder Angeklagte hat das Recht auf einen guten Verteidiger, sei er nun schuldig oder nicht.«
»Aber Pulli beteuert doch immer wieder, unschuldig zu sein und dass man ihm eine Falle gestellt hat.«
»Das tut er, ja.«
»Was halten Sie davon?«
»Was ich davon halte ?«
»Sie haben über die Jahre hinweg doch eine ganze Menge Verbrecher verteidigt, von denen sicher einige ihre Unschuld beteuert haben, was in der Regel dreist gelogen ist. Zieht man Tore Pullis Vergangenheit in Betracht, dann …«
»Ich kann wirklich nichts dazu sagen, Juul«, unterbricht ihn der Anwalt.
»Okay, ist in Ordnung«, antwortet Henning. »Wie erklärt Pulli seine Fingerabdrücke auf dem Schlagring?«
Olsvik hält die Antwort ein paar Sekunden lang zurück. Dann fragt er: »Haben Sie das Urteil nicht gelesen?«
»Nein, ich … äh, so weit bin ich noch nicht gekommen.«
Erneute Stille.
»Nun, es war Tores Schlagring. Sein alter.«
»Den er benutzt hat, als er noch Geldeintreiber war?«
»Ja. Er meint, der müsse ihm gestohlen worden sein.«
»Wann?«
»Das weiß er nicht.«
»Und genau dieser Schlagring wurde bei dem Mord benutzt?«
»Ja, es klebten noch Partikel von Joachim Brolenius’ Haut und Bart daran.«
Henning denkt nach und greift geistesabwesend zu dem Stift, der neben seinem Block liegt. Aus dem Augenwinkel sieht er, dass Heidi sich nähert. Henning senkt die Stimme. »Die eigentliche Mordwaffe wurde nie gefunden. Was hat Pulli dazu gesagt?«
»Nun ja, für Pulli war es vollkommen unbegreiflich, dass die Staatsanwaltschaft wirklich glauben konnte, er habe die Mordwaffe irgendwo versteckt, um dann noch einmal an den Tatort zurückzukehren. Das war auch einer der Gründe, weshalb wir Berufung eingelegt haben.«
Henning denkt nach. »Gibt es für die Berufung irgendwelche neuen Indizien? Oder Details, die zuvor nicht angesprochen worden sind?«
»Zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht, Juul. Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich los …«
»Noch eine letzte, kurze Frage, wenn Sie erlauben.«
Der Anwalt seufzt theatralisch und willigt ein.
»Hat Ihr Klient jemals mit Ihnen über … über mich gesprochen?«
»Über Sie?«
»Ja?«
»Warum sollte er das tun?«
»Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Aber hat er?«
»Äh, nein, nicht dass ich wüsste.«
»Und meinen Sohn hat er auch nie erwähnt?«
»Ihren Sohn? Nein«, antwortet Olsvik. »Warum fragen Sie mich das, Juul?«
Ein beklemmendes, einsames Gefühl bemächtigt sich seiner.
»Vergessen Sie’s, ich war nur neugierig.«
22
Henning sagt Heidi Bescheid, bevor er sich in Richtung Polizeipräsidium aufmacht. Unterwegs ruft er die Polizeichefin Pia Nøkleby an. Sie ist bei Weitem nicht die Einzige, die im Präsidium etwas zu sagen hat, ganz sicher aber diejenige, mit der er seit seinem Wiedereinstieg am meisten zu tun hat.
»Hallo, Pia, hier ist Henning Juul.«
»Hallo, Henning.«
»Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«
Es dauert einen Moment, bis sie antwortet: »Ja, ich denke schon. Was kann ich für Sie tun?«
»Könnten Sie für einen Moment nach unten kommen?«
»Wohin?«
»Auf die Rasenfläche vor dem Präsidium. Ich stehe draußen.«
Das ist eine Lüge, er ist noch nicht da, es dauert aber immer ein bisschen, bis sie von der sechsten Etage nach unten kommt.
»Jetzt gleich?«
»Am liebsten ja. Es ist langweilig, ganz allein hier herumzustehen, obwohl das Wetter ja schön ist.«
Wieder entsteht eine Pause.
»Ich muss gleich zu einer Sitzung, viel Zeit habe ich nicht, aber …«
»Ich habe ein Eis für Sie gekauft.«
Lüge Nummer zwei.
»Haben Sie? Dabei mache ich doch Diät.«
» Sie machen Diät?«
»He, he.«
Henning lacht, obwohl er weiß, dass es sich falsch anhört.
»Okay, geben Sie mir ein paar Minuten. Ich glaube, eine kleine Pause täte mir ganz gut.«
»Ich sitze, wenn Sie rauskommen, links auf der Bank. Beeilen Sie sich, damit das Eis nicht
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