Verliebt in einen Gentleman
Oberschenkel hoch wandert. Toms Hand.
Ich will kein Theater machen, aber derlei Übergriffe mag ich nicht. Also fasse ich Toms Arm am Smokingärmel, hebe ihn hoch und lege ihn kommentarlos auf sein eigenes Bein.
Tom wirft mir einen verärgerten Blick zu, sagt aber nichts, das heißt, er sagt doch etwas: „Hey, Carla, wie wär's, wenn du mit Lea mal den Platz tauschst? Ich möchte neben jedem von euch hübschen Mädels einmal gesessen haben, bis wir am Kasino ankommen.“
Ich bin nur zu gerne bereit, mit Carla zu tauschen. Wir steigen über einander hinweg.
Heimlich denke ich mir: Aha, so ist das also. Wir sollen nicht nur schmückendes Beiwerk sein, sondern auch angegrabbelt werden. Meine Meinung von Tom ist nicht mehr ganz so gut, wie sie gerade noch war.
Als ich mich auf meinem neuen Platz fallen lasse, blicke ich beiläufig nach vorne. Durch den Rückspiegel sehe ich die Augen des Chauffeurs. Ich werde ein bisschen rot, auch wenn es im dunklen Auto wahrscheinlich keiner sieht, und starre aus dem Fenster, an dem ich jetzt sitze. Hat der etwa alles beobachtet?
Nach etwa einer Stunde fahren wir steil bergauf. Die alten Mauern der Hohensyburg ragen über uns auf. Das Auto macht einen Schwenk und hält vor einem hochmodernen Gebäude. Es besteht fast nur aus Glas, und das Licht aus tausend Lampen lässt das Kasino von innen strahlen, als wäre es eine riesige Laterne, die die Aufgabe hat, die ganze Umgebung zu beleuchten.
Ich war noch nie in einem Spielkasino, und mir ist vor Aufregung ganz kribbelig.
Wir klettern alle aus der Limousine. Sofort umfängt uns die kühle Nachtluft.
Tom wechselt ein Paar Worte mit dem Chauffeur. Der startet den Motor nochmal und fährt ein paar hundert Meter weiter zum Parkplatz.
Dann gehen wir auf das Gebäude zu. Drinnen ist es warm und hell. Musik klingt von irgendwo her.
Ein vornehm bekleideter Bediensteter begrüßt uns und kontrolliert unsere Personalausweise.
Eine Gruppe von weiteren Leuten in unserem Alter gesellt sich zu uns – es sind diejenigen Freunde von Tom, die mit ihren eigenen Autos angereist sind. Ich sehe mich um. Es sind wohl hauptsächlich Studienkollegen von Tom. Er studiert Medizin, ich aber Anglistik. Ich kenne keinen einzigen von ihnen.
Ehrlich gesagt weiß ich auch nicht, ob ich sie kennenlernen will. Bei uns Geisteswissenschaftlern amüsiert man sich immer etwas über die Mediziner. Man sagt, dass sie allesamt Streber sind, nämlich die Klassenbesten aus allen Schulen. Sie sehen auch alle recht nerdig aus, ein bisschen so, als hätten sie sich ins Kasino verlaufen. Klar, sie haben sich auch alle schick gemacht, aber es sieht bei den meisten so aus, als hätten sie für den Anlass ihre Konfirmationsanzüge ausgemottet. Ich seufze. Na, das kann ja heiter werden!
Aber, was soll's? Ich habe vor, mich heute Abend so richtig zu amüsieren. Irgendwie wird das schon klappen...
Doch eine Stunde später befinde ich mich auf einem Barhocker und langweile mich zu Tode. Ich hatte nicht realisiert, dass diese Party keine Einladung im eigentlichen Sinne ist. Leichtsinnigerweise habe ich mein Portemonnaie einfach zu Hause gelassen. Die anderen Teilnehmer der Party sind zu den Spieltischen abgeschwirrt und versuchen dort ihr Glück. Eine Weile habe ich zugeguckt, aber so richtig spannend ist es nicht, wenn man nicht beteiligt ist.
Einige sind in ein Restaurant abgedriftet und essen dort nett.
Ich fühle mich ein wenig wie Aschenputtel, obwohl ich meine, dass ich nicht so aussehe. Und das stimmt wohl auch, denn in der letzten halben Stunde bin ich von mindestens zehn älteren Herren angesprochen worden, die mir ein Getränk ausgeben wollten. Ich habe jedes Mal freundlich abgelehnt, und die Herren sind mit hängenden Ohren davon gewackelt.
Dabei brennt mir die Kehle vor Durst. Tom, der großspurige Gastgeber, hat jedem genau einen einzigen Prosecco genehmigt, mehr nicht.
Ich fühle mich, ehrlich gesagt, richtig mies.
Ich wäre das perfekte Model für so ein Diagramm in der Apotheken Umschau. Als Titel stünde darüber: „Leas Zustand im Kasino“.
Darunter wäre ein Bild von mir in meinem tollen Outfit.
Ein Pfeil würde auf meine Kehle zeigen. „Durstig“.
Ein Pfeil würde auf meinen Bauch zielen. „Sehr hungrig, weil nichts zu Abend gegessen und über eine Stunde schon unterwegs.“
Zwei Pfeile würden auf meine Ohrläppchen deuten. „Traumatisiert durch schwere und zu stramme Clips.“
Und zwei Pfeile gingen zu meinen Füßen. „Extreme Schmerzen
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