Verliebt in einen Gentleman
Chandeliers, wie sie die Schauspielerinnen bei den Oskarverleihungen tragen, nur dass die dann vermutlich aus echten Brillis sind. Diese sind garantiert aus Strass, sonst wären sie mindestens eine Millionen Dollar wert, und wir würden nicht in unserer kleinen, bescheidenen Doppelhaushälfte am Stadtrand von Bielefeld wohnen.
Ich hebe einen der Clips hoch und halte ihn ans Licht. Sofort glitzert und funkelt es wie bei einem Sylvesterfeuerwerk.
„Probier sie an“, sagt meine Mutter, noch ganz außer Atem vom schnellen Treppensteigen.
Ich stelle mich vor den Garderobenspiegel und klemme mir die Gehänge an die Ohrläppchen. Sie klimpern und berühren fast meine nackten Schultern. Ich schwinge leicht mit dem Kopf. Schon funkelt es wieder.
„Toll“, sage ich, „die machen mein Outfit perfekt. Wie kommst du nur an solche geilen Ohrringe?“
Mein Vater guckt meine Mutter jetzt auch neugierig an. Anscheinend hat er sich gerade genau dieselbe Frage gestellt.
Meine Mutter wirft meinem Vater einen schnellen Seitenblick zu und wird rot.
„Ach, die habe ich mir bei Ebay ersteigert. Ich dachte, es wäre nett, mal etwas Glitzerndes für die Oper oder für das Konzert zu haben. Als ich sie dann bekommen habe, war ich geschockt, wie groß die Dinger sind. Ich hatte eigentlich an etwas Kleineres, Dezenteres gedacht.“
Mein Vater bemerkt: „Also dezent sind die ganz und gar nicht“, und guckt grimmig. Er mag es sowieso nicht, wenn meine Mutter Ohrringe trägt.
Ich kann gut verstehen, dass meine Mutter sich nie getraut hätte, sie in seiner Gegenwart zu tragen.
Ich drehe eine Pirouette und sehe mich im Spiegel an.
„Hurra“, sage ich, „jetzt freue ich mich schon richtig auf morgen Abend. Danke, Mama.“
Ich drücke ihr einen schnellen Kuss auf die Wange und steige wieder die Treppe zu meinem Zimmer hinauf.
Die Treppe ist offen und es geht von einer Art Galerie im oberen Stock in die Schlafzimmer.
Als Kind habe ich gerne dort oben gehockt und heimlich die Erwachsenenwelt belauscht, wenn ich eigentlich schon im Bett sein sollte.
Jetzt höre ich, wie mein Vater sagt: „Dass du das erlaubst, Elsa. Ich bleibe dabei: Lea sieht in diesem Aufzug wie eine Nutte aus.“
Natürlich verlangsamt sich mein Schritt. Ich lege eine Hand auf das Geländer, lehne mich vor und spitze die Ohren.
Meine Mutter erwidert: „Dass ich was erlaube, Wilhelm? Was ist so schlimm daran, wenn Lea ein fröhliches, glückliches Studentenleben führt, besonders nach dem, was sie durchgemacht hat?“
Mein Vater macht ein widerwilliges Geräusch. Ich kann mir jetzt seinen Gesichtsausdruck genau vorstellen, obwohl ich ihn von meinem Versteck aus nicht sehen kann.
„Das hat doch damit gar nichts zu tun. Im Übrigen hätte ich gedacht, dass sie gerade durch ihre vergangenen Erfahrungen zu einem reiferen, vernünftigeren Menschen geworden wäre.“
Meine Mutter meint: „Ach, und dürfen reife und vernünftige Menschen denn etwa keinen Spaß haben? So ein Unsinn! Mir gefällt es gut, dass sie so vergnügt und lebenslustig ist. Wenn sie stattdessen ernst und zurückgezogen wäre, würde mir das viel mehr Sorgen bereiten. Ich finde das nur konsequent und auch irgendwie herrlich, dass sie jetzt genauso ist, wie sie ist.“
Ich schlucke.
Ich weiß genau, worauf die beiden anspielen, aber ich schiebe es ganz schnell weg, weit hinten in einen Winkel meines Hirns, wo es sonst immer sitzt und gut aufgehoben ist. Müssen sie denn immerfort wieder davon anfangen?
Anscheinend haben sie es noch längst nicht so gut verarbeitet, wie ich. Ich vermute, dass man als junger Mensch viel flinker mit so etwas klarkommt, als die Erwachsenen, selbst wenn man derjenige ist, der am meisten betroffen war.
Mein Vater grunzt nur irgendetwas Unverständliches und sagt dann nichts mehr.
Ich höre, wie die Stricknadeln meiner Mutter wieder leise klappern und schleiche mich auf Zehenspitzen zu meiner Zimmertür und ziehe sie sanft hinter mir zu.
Am nächsten Abend warte ich darauf, gegen neun Uhr an meiner WG in Münster abgeholt zu werden. Meine Mitbewohner Marc und Lisa machen Augen, als ich gegen neun in meinem kleinen Schwarzen in die Gemeinschaftsküche schlendere. Lisa verschluckt sich fast an ihrem Cappuccino, und Marc, der gerade Geschirr spült, lässt ein Glas so ins Wasser klatschen, dass seine Schürze vorne ganz nass wird.
„Hey, hey, hey“, sagt er, „schöne Frau! Wo geht’s hin? Zum Miss Germany-Wettbewerb?“
Lisa guckt leicht säuerlich,
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