Verloren
hat, ist unwiderruflich verflogen. Stattdessen liegt eine Spannung in der Luft, die ich körperlich fühlen kann und die sich jedes Mal steigert, wenn wir uns zufällig berühren. Was immer dann passiert, wenn uns Autos oder Leute entgegenkommen, sodass wir auf dem schmalen Bürgersteig dichter zusammenrücken müssen.
Einmal, als uns eine große Gruppe Touristen begegnet – ausgerechnet ziemlich angetrunkene Engländer –, die sich laut unterhalten und lachen und sehr viel Platz brauchen beim Gehen – legt Matteo sogar schützend den Arm um mich und zieht mich ein Stück an sich, bis sie vorbei sind – was meinen Herzschlag so nach oben jagt, dass ich danach hastig wieder von ihm abrücke. Im Gegensatz zu vorhin reden wir kaum noch, gehen schweigend nebeneinander her.
So kann das nicht weitergehen, denke ich und überlege fieberhaft, was ich ihn fragen könnte, um nicht mehr daran denken zu müssen, wie es wäre, wenn er mich jetzt richtig in den Arm nimmt.
»Sie sehen nicht aus wie ein typischer Italiener.« Es ist das Erste, was mir in den Sinn kommt. »Sind in Ihrer Familie alle blond?«
Seine Haar- und Augenfarbe sind wirklich ungewöhnlich, und er kann beides nicht von seiner englischen Mutter geerbt haben. Die war auf den Fotos, die ich im Internet von ihr gefunden habe, nämlich brünett und hatte grüne Augen. Aber dass ich das weiß, verrate ich ihm lieber nicht.
Er lächelt. »Nein, ich bin der Einzige. Nonna – ich meine Valentina – sagt immer gern, wie sehr ich meinem Urgroßvater ähnele. Er stammte aus Norditalien.«
Dann muss sein Urgroßvater ein unglaublich hübscher Kerl gewesen sein, denke ich. Er hat sein Jackett jetzt angezogen und die Hände lässig in die Hosentaschen geschoben, und ich betrachte ihn weiter, weil ich den Blick einfach nicht von ihm lösen kann.
»Dann sehen Ihre Brüder anders aus?«
»Sie sehen anders aus und sie sind ganz anders.« Er zuckt mit den Schultern und grinst ein bisschen schief. »Ich bin so was wie das schwarze Schaf der Familie – oder das blonde, wenn man so will.«
»Verstehen Sie sich gut mit Ihren Brüdern?«
Er runzelt die Stirn, doch sein Lächeln bleibt. »Drehen Sie den Spieß jetzt um? Ich dachte, ich stelle hier die Fragen.«
Wir biegen erneut nach links ab, diesmal in eine etwas breitere Straße ohne Kopfsteinpflaster, dafür mit wunderschönen alten Platanen auf beiden Seiten.
»Sie wissen doch jetzt alles über mich. Da finde ich es nur fair, wenn ich auch mal etwas über Sie erfahre«, sage ich und hoffe, dass meinem Lächeln nicht anzumerken ist, wie verwirrt ich immer noch bin. Der warme, sternenklare Abend, das Blätterdach über uns und dieser leider viel zu attraktive Mann neben mir – das macht es alles nicht besser. Deshalb blicke ich lieber auf den Boden, anstatt ihn weiter anzusehen, und zucke heftig zusammen, als er plötzlich die Hand um meinen Arm schließt und mich zwingt, stehen zu bleiben.
»Eine Information über mich wäre zum Beispiel, dass das hier mein Haus ist«, erklärt er mir und deutet mit dem Kinn auf ein großes Tor in einer hohen, gemauerten Wand, die ein einzelnes Haus umgibt, eine Villa. Sie ist groß und hat hohe Fenster, doch die Farbe und die genaue Architektur kann ich nicht erkennen, die hat die Nacht verschluckt.
»Schön«, erwidere ich und atme ein bisschen schneller.
»Möchten Sie es sich ansehen?«
Seine Hand liegt immer noch auf meinem Arm, deshalb ist das mit dem Denken gerade ziemlich schwierig. Aber eins weiß ich: Das wäre ganz bestimmt keine gute Idee!
»Nein.« Meine Stimme ist nur ein Flüstern, und es klingt selbst in meinen Ohren mehr wie ein Ja.
Matteo beugt sich vor, so weit, dass sein Gesicht im Schatten liegt und ich den Ausdruck darauf nicht mehr erkenne. Nur sein Haar schimmert golden im Licht der Laterne, und ich meine zu sehen, wie seine Augen funkeln.
»Warum nicht?«, sagt er, leise und tief. »Hast du etwa doch Angst, Sophie?«
Ich schaffe es nicht, den Kopf zu schütteln. Ich kann nicht mal atmen, obwohl ich spüre, dass meine Lippen leicht geöffnet sind. Alle meine Sinne sind plötzlich nur noch auf ihn konzentriert.
»Wovor fürchtest du dich?« Seine Stimme klingt rau. »Davor, dass ich das hier tue?«
Er legt die Hände an meine Hüften und zieht mich langsam an sich, so langsam, dass ich ihn theoretisch aufhalten könnte. Aber ich lasse es geschehen, bis sein Gesicht dicht vor meinem steht und unser Atem sich mischt.
»Oder das hier«, flüstert er
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