Wer einmal lügt
EINS
I n diesem Sekundenbruchteil, wenn er auf den Auslöser drückte und die Welt im grellen Blitzlicht verschwand, sah Ray Levine manchmal das Blut. Er wusste natürlich, dass er es nur vor seinem inneren Auge sah, aber gelegentlich – wie jetzt gerade – war die Vorstellung so real, dass er die Kamera senken und eine Weile auf den Boden starren musste. Dieser fürchterliche Moment – der Moment, in dem sich Rays Leben für immer verändert hatte, in dem er sich von einem Mann mit klaren Zielen und einer äußerst vielversprechenden Zukunft in den totalen Loser verwandelt hatte, der er jetzt war – überkam ihn nie in seinen Träumen oder wenn er allein in der Dunkelheit lag. Diese erschütternden Visionen warteten auf Situationen, in denen er hellwach, unter Menschen und mit etwas beschäftigt war, was manche Leute etwas sarkastisch vielleicht als Arbeit bezeichnet hätten.
Gnädigerweise verblasste das Bild, als Ray fortfuhr, den Bar-Mizwa-Jungen zu fotografieren.
»Guck mal hierher, Ira«, rief Ray hinter dem Objektiv. »Mit wem hast du was? Ist es wahr, dass Jen und Angelina immer noch deinetwegen im Clinch liegen?«
Ray bekam einen Tritt gegen’s Schienbein. Jemand stieß ihn zur Seite. Ray schoss dennoch weiter Fotos von Ira.
»Wo ist nachher die Party, Ira? Welches glückliche Mädchen bekommt den ersten Tanz?«
Ira Edelstein runzelte die Stirn und versuchte sein Gesicht vor der Kamera abzuschirmen. Unerschrocken sprang Ray weiter vor und schoss aus jedem Winkel Fotos. »Aus dem Weg!«, rief jemand. Wieder wurde Ray zur Seite gestoßen. Er versuchte, sich auf den Beinen zu halten.
Klick, klick, klick.
»Verdammte Paparazzi!«, rief Ira. »Kann man denn nie seine Ruhe haben?«
Ray rollte die Augen. Er wich nicht zurück. Wieder erschien das Blut vor seinem inneren Auge. Er versuchte, es wegzublinzeln, was aber nicht funktionierte. Ray ließ den Finger auf dem Auslöser. Ira, der Bar-Mizwa-Junge, flackerte jetzt in zeitlupenhaften, stroboskopartigen Bewegungen.
»Ihr Parasiten«, schrie Ira.
Ray fragte sich, ob man noch tiefer sinken konnte.
Ein weiterer Tritt gegen’s Schienbein beantwortete die Frage: Nein.
Iras »Leibwächter« – ein riesiger Kerl mit kahlrasiertem Schädel namens Fester – wischte Ray mit seinem baumdicken Unterarm zur Seite. Er tat das mit etwas zu großer Begeisterung, so dass Ray fast gestürzt wäre. Ray sah Fester mit einem »Was soll der Scheiß?«-Blick an. Fester entschuldigte sich lautlos.
Fester war Rays Chef und Freund und der Besitzer von Celeb Experience: Paparazzi for Hire – und die Firma tat genau das, was der Name besagte. Ray legte sich nicht etwa wie ein echter Paparazzo auf die Lauer, um kompromittierende Fotos von Prominenten zu machen und sie an die Boulevardpresse zu verkaufen. Nein, Ray stand noch weit darunter – wie Beatlemania zu den Beatles –, indem er Möchtegern-Prominenten anbot, sich ein paar Stunden lang wie echte Prominente zu fühlen. Gegen Bezahlung. Seine – häufig extrem selbstgefälligen und vermutlich von Erektionsschwierigkeiten geplagten – Kunden bestellten sich ein paar Loser, die ihnen folgten und Fotos schossen, um ihnen damit, wie es in der Broschüre hieß, »das ultimative Prominenten-Erlebnis mit ihren eigenen, exklusiven Paparazzi« zu ermöglichen.
Natürlich wusste Ray, dass er durchaus noch tiefer hätte sinken können. Er ging jedoch davon aus, dass es dazu eines Akts höherer Gewalt bedurft hätte.
Die Edelsteins hatten das Megapaket von der A-Liste bestellt – zwei Stunden mit drei Paparazzi, einem Leibwächter, einem Journalisten und einem Typen mit Mikrofonangel, die dem »Prominenten« die ganze Zeit folgten und Fotos schossen, als wäre er Charlie Sheen, der sich heimlich in ein Kloster schleicht. Zum Megapaket der A-Liste gehörte außerdem eine Gratis- DVD mit den Fotos und eines dieser kitschigen gefälschten Klatschmagazine mit dem eigenen Gesicht auf dem Titel und einer passenden Schlagzeile.
Der Preis für das Megapaket von der A-Liste?
Vier Riesen.
Um die unvermeidliche Frage zu beantworten: Ja, Ray hasste sich dafür.
Ira schob sich an ihm vorbei und verschwand im Tanzsaal. Ray ließ die Kamera sinken und sah seine beiden Paparazzi-Kollegen an. Keiner von beiden hatte das Loser-L auf die Stirn tätowiert, weil das, ehrlich gesagt, schlicht unnötig gewesen wäre.
Ray sah auf die Uhr. »Mist«, sagte er.
»Was ist?«
»Wir haben noch eine Viertelstunde.«
Seine Kollegen – kaum
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