Verneig dich vor dem Tod
ist kein Mensch mehr auf der Landstraße. Sieh dir doch den Schnee da draußen an. Er bildet Wehen in den Senken und an den Hecken. Der Wind kommt bitterkalt aus Osten. Kein vernünftiger Mensch begibt sich in solch einer Nacht auf die Landstraße.«
Bruder Eadulf schnalzte mit der Zunge vor Verärgerung. Der Gastwirt sah ihn wieder mitleidig an.
»Warum setzt du dich nicht ans Feuer? Deine Gefährtinkommt sicher gleich dazu, und ich bringe euch eine Erfrischung«, meinte er aufmunternd.
Bruder Eadulf zögerte.
»Morgen läßt der Sturm vielleicht nach, dann kommt man leichter zur Abtei durch«, versuchte ihn der Gastwirt zu überreden.
»Ich muß die Abtei heute abend noch erreichen, weil …« Bruder Eadulf brach ab. Warum sollte er dem Gastwirt seine Gründe erklären? »Es ist wichtig, daß ich noch vor Mitternacht dort bin.«
»Na, Bruder, zu Fuß schaffst du das nie, selbst wenn du den Weg kennen würdest. Was ist denn so wichtig, daß es auf einen Tag ankommt?«
Bruder Eadulf zog grimmig die Brauen zusammen.
»Ich habe meine Gründe«, beharrte er.
Cynric schüttelte traurig den Kopf. »Ihr Ausländer seid doch alle gleich. Schnell, schnell, schnell. Na, heute abend wirst du wohl dem Sturm nachgeben müssen, dir bleibt keine andere Wahl.«
»Ich bin nicht fremd in diesem Land, Freund«, protestierte Eadulf, den die Bezeichnung »Ausländer« geärgert hatte. »Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham und war der erbliche
gerefa
des Ortes, bevor ich die Tonsur des heiligen Petrus annahm.«
Der Gastwirt machte große Augen. Ein
gerefa
war ein Mann von Rang im Ort und hatte das Amt des Friedensrichters inne.
»Verzeih mir, Bruder. Ich wunderte mich schon, daß du unsere Sprache so gut sprichst, aber weil du in Begleitung einer irischen Nonne reist, dachte ich, du gehörtest auch dieser Nation an.«
Eadulf antwortete ausweichend. »Ich habe mich eine Weile im Ausland aufgehalten. Aber
Deo adiuvante,
mit Gottes Hilfe, werde ich zur Christmesse wieder in meinem Heimatort Seaxmund’s Ham sein.«
»Es sind noch vier Tage bis dahin, Bruder. Aber warum willst du nach Aldreds Abtei? Warum wartest du nicht ab, bis der Sturm vorüber ist, und gehst dann geradewegs nach Seaxmund’s Ham, das doch nur ein kleines Stück jenseits davon liegt?«
»Weil … weil ich meine Gründe dafür habe«, erwiderte Eadulf schroff.
Der Gastwirt verzog das Gesicht bei Eadulfs unruhiger Verschlossenheit. Er zuckte die Achseln und ging zum Feuer. Das Gasthaus war leer. Niemand sonst hatte es bis zu der verschneiten Kreuzung geschafft, an der es stand. Er nahm ein Scheit Holz vom Stapel, wiegte es kurz in der Hand und legte es aufs Feuer.
»Du wirst vieles verändert finden in diesem Land, Bruder«, meinte er und wandte sich wieder vom Kamin ab. »Du hast eigentlich schon Glück gehabt, daß du sicher bis hierher gekommen bist.«
»Ich hab schon mehr Schnee gesehen und bin durch Schneestürme gewandert, hinter denen sich der da« – Eadulf wies nach draußen – »verstecken kann. Was soll daran gefährlich sein?«
»Ich habe nicht in erster Linie das Wetter gemeint. Der Mensch ist oft grausamer als die Elemente, mein Freund. An vielen Orten sind die christlichen Gemeinschaften jetzt Überfällen ausgesetzt. Der neue Glaube wird heftig angefeindet.«
»Überfällen ausgesetzt? Von wem?« wollte Eadulf wissen.Widerwillig ließ er sich am Feuer nieder, während der Gastwirt einen Becher Apfelwein aus einem Holzfaß schöpfte.
»Von denen, die zur Verehrung Wotans zurückgekehrt sind, natürlich. Im Königreich der Ost-Sachsen tobt ein Bürgerkrieg zwischen König Sigehere und seinem eigenen Vetter, Prinz Sebbi. Sie kämpfen nicht nur um die Krone, sondern jeder für seinen Glauben. Du mußt doch durch das Land der Ost-Sachsen gekommen sein, um hierher zu gelangen? Hast du nichts von dem Konflikt bemerkt?«
Eadulf schüttelte den Kopf und nahm den Becher entgegen. Vorsichtig nippte er daran. Das Getränk war süß und stark.
»Ich wußte nicht, daß der Streit zu offenem Krieg geführt hat«, sagte er nach einem weiteren Schluck. »Sigehere und Sebbi wandelten beide fest auf dem Weg Christi, als ich dieses Königreich verließ, und es gab keine Feindschaft zwischen ihnen.«
»Wie du sagst, beide waren Christen. Aber als vor zwei Jahren die Gelbe Pest bei den Ost-Sachsen ausbrach, kam Sigehere zu der Überzeugung, das wäre die Strafe der alten Götter für die, die von ihnen abgefallen waren. Deshalb wandte er sich von dem
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