Versunkene Gräber: Kriminalroman (German Edition)
am anderen, und auch wenn sie geneigt war, ihre Sympathie den Neuankömmlingen zu schenken, so empfand sie zugleich tiefes Mitgefühl für den Mann, der hinter die Front geraten war, um in seinem Versteck langsam in den Wahnsinn zu gleiten.
»Die Hagens waren angesehene Leute«, hatte Zygfryd die Geschichte begonnen, die ihr einzigartig erschien und die sich dennoch in die ungezählte Reihe all jener Vorkommnisse einreihte, die in diesen furchtbaren Zeiten geschehen waren. Während Zuzanna zuhörte und sich immer wieder Notizen machte, fragte sie sich, wann er wohl auf Krystyna käme und was dieser Rückblick mit dem Tod seiner Tochter zu tun hatte.
»Seit Generationen haben sie den Weinberg bewirtschaftet. Eine Weile waren sie sogar kaiserliche Hoflieferanten und für all die feinen Herrschaften im Umkreis sowieso. In ihrem Keller lagen die edelsten Tropfen aus den besten Lagen Europas. Im Weinberg wurde Polnisch und Deutsch gesprochen, beim großen Erntefest saßen alle zusammen an langen Tafeln vor dem Haus, und Lenkas Mutter, die Vorarbeiterin war, trug die Erntekrone, einen Haferkranz mit Weinreben. Am Abend warfen sie Leinsamen auf die Dielen im Haus. Beim Drauftreten wurde das Öl herausgepresst, und das Holz glänzte wie Parkett. Hagens Frau tanzte mit dem Kutscher und Hagen mit dem Hausmädchen, jeder mit jedem. Dann gab es Schwarzsauer. Das beste Schwarzsauer, das ich je gegessen habe.«
»Sie waren dabei?«
»Ich war ein Kind, ein Junge. Ein Steppke , so haben sie gesagt. Dann kam der Krieg. Ich fand mich wieder in einem Stollen in Thüringen, einer Außenstelle des KZs Buchenwald, wo ich Raketen zusammenbauen musste für die Nazis und fast verhungert wäre und sie die Menschen gleich auf dem Laufband gehenkt haben. Dreißigtausend sind damals gestorben, in Nordhausen. Ich habe Kalk auf die Leichen geschüttet. Wer das tat, bekam einen Kanten Brot extra. Ich hatte Hunger.«
Er fuhr sich über die Augen, und Zuzanna ließ ihm den Moment, um die Fassung wiederzuerlangen. Sie sah sich um.
Zygfryd hatte sie über eine enge Stiege mit nach oben in das niedrige Dachgeschoss genommen. Es war ein kleines, reinliches Zimmer, in das er sie geführt hatte. Darin war gerade genug Platz für einen Kleiderschrank aus hellem Holz, ein Ehebett und zwei Nachtschränke. Um aus dem winzigen Fenster zu sehen, musste man sich auf das Bett stellen. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Kreuz. Daneben eine gerahmte Anerkennungsurkunde des polnischen Ministerpräsidenten Boles ł aw Bierut aus dem Jahr 1949 für Zygfryds Verdienste im Pa ń stwowy Urząd Repatriacyjny , dem Repatriierungsamt, und ein kleiner Kasten mit dem Krzyż Zasługi , dem Verdienstkreuz in Bronze. Gedenken hinter Glas.
Auf dem Ehebett lagen nur ein Kissen und eine Decke.
»Entschuldigung«, sagte er.
Sie nickte. Es gab keine Familie in diesem Land, die der Krieg verschont hatte.
»Die Amerikaner sind im April fünfundvierzig gekommen. Ich war achtzehn und sah aus wie fünfzig. Ich bin sofort zurück. Ich hatte Angst … Ich befürchtete … Ich mochte Lenka, damals schon.«
»Lenka?«, fragte sie verwirrt. Seine Enkelin war unten geblieben.
»So hieß auch meine Frau.« Er fuhr mit der Hand über die leere Seite des Bettes.
»Sie hatten Angst, sie wäre nicht mehr hier? Dass ihr etwas zugestoßen ist?«
»Ja. Nach allem, was ich gehört hatte, mussten die Deutschen das Land so schnell wie möglich verlassen.«
Zuzanna glaubte, sie hätte sich verhört. »Ihre Frau war … Deutsche?«
Der alte Mann nickte. »Ja. Ihr Name war Magdalena Schröder.«
»Magdalena«, wiederholte Zuzanna. »Aus Magdalena wurde Lenka.«
Lenka war die polnische Abkürzung dieses Namens. Sie dachte an das junge Mädchen, das noch immer unter Schock stand und jetzt auch noch die Familie trösten musste. Es trug den Namen seiner Großmutter. Lenka. Magdalena.
»Magda, so hieß sie auf dem Gut. Sie ist geblieben, bis zuletzt. Sogar noch darüber hinaus. Ich weiß, was die Deutschen unter Nibelungentreue verstehen. Ich wusste es, als ich Lenka wiedersah. Sie ist immer wieder zurück ins Haus. Anfangs noch trug sie Kleider, schöne Kleider, aus Seide. Doch als ich sie fragte, woher sie sie hat, hat sie sich geschämt. Ich mochte das nicht. Das waren Sachen, die den feinen Leuten gehört hatten. Wir waren doch anders, oder? Wir wollten anders sein.«
Er schenkte Zuzanna einen hilflosen Blick, den sie nur mit einem Nicken beantworten konnte. Sie wusste nicht, wie
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