Versunkene Inseln
gewußt, bis er es mir im Museum zuflüsterte. Und ich hatte mir nicht einmal die Zeit genommen, um über das Warum nachzudenken.
„Nein, es gibt keine anderen Sterblichen. Finden Sie das beruhigend?“
„Ich habe es Ihnen zu erklären versucht. Er war genauso sterblich wie Sie.“
Jenny starrte aufs Meer hinaus, und ihre Augen waren genauso trüb wie die ihres Liebhabers. Wie viele Menschen hatte ich dort oben getötet?
Nein, er war nicht mein Kind. Aber er hätte es sein können, das wäre durchaus möglich gewesen. Ich war nie sehr keusch.
Ich hob den Kopf, und mein Blick glitt durch das noppenbesetzte Schweigen des Raums. Ich seufzte. Und stand auf. Zu viele Fragen, ein zu quälendes Schuldbewußtsein. Ich konnte die Endgültigkeit von Tobias’ Tod nicht mildern, indem ich endlos grübelte. Und ich konnte ihn nicht ein zweites Mal umbringen. Jenseits des Raums wogte das Meer, glitt der Mond durch seine Phasen, drehte sich die Erde um die Sonne und die Sonne um das Zentrum der Galaxis. Alles erfüllte seinen Zweck, alles hatte seinen Sinn. Und es war meine Aufgabe, einen Sinn zu finden für diese Qual, dieses Sterben. Eine Beisetzungszeremonie der tieferen Bedeutung zu entwickeln.
Ein Fisch stirbt, und sein Tod bildet die Lebensgrundlage für andere Fische und Meeresgeschöpfe. Oder der Kadaver sinkt hinab und wird ein Teil der üppigen Fruchtbarkeit am Meeresgrund. Ein Ozean stirbt, und sein Vergehen ist die Geburt von Land. Eine Klippe zerbricht unter der Wucht der Brandung, und das Meer ist zugleich geschrumpft und größer geworden. Ein kontinuierlicher Prozeß, und jeder Tod stellt ein Plus für den Zyklus des Lebens dar, jede Division multipliziert, jedes Subtrahieren addiert. All dies ist nicht ohne eine gewisse Harmonie: Leben und Tod stehen im Einklang zueinander, und es ist diese gleichwertige Bedeutung, dieser Gegensatz, der jedem Aspekt seinen Sinn gibt. Und das ist es auch, was Lippencotts Kinder verloren haben. Was ich verloren habe. Den Trost des Wandels, die Würde des Entwicklungsverlaufs.
Er hätte sehr gut mein Kind sein können. Und die Bezahlung für sein Leben sollte darin bestehen, daß ich mein eigenes aufs Spiel setzte. Er hätte mein Sohn sein sollen.
Ich wanderte durch den weiten Raum, bis ich vor dem dunklen Berg von Mitsuyagas letzter, noch nicht erprobter Schöpfung stand. Ich berührte den grauen Fleck; der Haufen teilte sich, und die beiden Hälften krochen langsam auseinander und enthüllten ein zugestöpseltes Fläschchen, das auf einem kleinen schwarzen Absatz stand. Sonst nichts. Kein Bildschirm. Keine Auflistung von Sprachen, keine Anhäufung von Worten. Ich nahm die Phiole in die Hand und betrachtete die im Innern schwimmende, graue Flüssigkeit, die sich nur in der Farbe von Wasser zu unterscheiden und ebenso leicht zu sein schien. Es fehlte nur noch ein Etikett mit der Aufschrift „Trink mich.“
Hinter mir wuchs eine Liege aus dem Boden. Ich ließ mich darauf nieder, das Fläschchen noch immer in der Hand. Verspürte keine Bedenken, keine besonderen Erwartungen, war ganz ruhig und gelassen. Ich öffnete den Verschluß der Phiole, hob sie, prostete Tobias schweigend zu und trank die Flüssigkeit.
Ich fühlte eine tiefgreifende Veränderung. Es war, als habe das Universum die Gangart gewechselt. Ich streckte mich auf der Liege aus, schloß die Augen und ließ das leere Fläschchen aus der Hand gleiten und auf den weichen Boden fallen.
Die Dunkelheit hinter meinen Augenlidern löste sich langsam auf. Konturen formten sich, Farben wogten, eine gestaltlose Bewegung, gerade jenseits meiner Wahrnehmungsschwelle. Ich wurde unsicher, als ich keinen Bezugspunkt fand in diesem beständigen, verwirrenden Strömen.
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