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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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beschreiben? Es schmeckt mir nicht. Ich bezahl es, und fertig. Muss ich einen Antrag ausfüllen?«
    Seine Stimme war laut geworden. Einige Gäste sahen zu ihm her. Ohne ein weiteres Wort nahm die Bedienung das halb volle Glas und brachte es zum Tresen.
    »Das eine ist wahr und das andere auch«, sagte Schilff. Und rieb die mit Pflaster verklebten Finger aneinander.
    »Wenn Sie jemanden suchen und Sie kriegen eine Beschreibung von den Verwandten, sieht dann so der Gesuchte aus? Ja?«
    »Oft nicht«, sagte Süden. Ihm tat der Magen weh. Er hatte nichts gegessen.
    »Natürlich oft nicht!« Schilff kratzte sich mit den Fingernägeln über die Wangen. »Und trotzdem ist jede Beschreibung wahr, verstehen Sie mich? Was einer sagt, das stimmt, das ist seine Sicht, er hat keine andere, er hat nur diese eine, er formt die Wirklichkeit. Was glauben Sie, passiert, wenn Sie diesen Menschen sich selbst beschreiben lassen? Stellen Sie sich vor: Dieser Vermisste würde einem Fremden eine Beschreibung von sich geben und der Fremde ginge mit der Beschreibung zu den Angehörigen des Vermissten, ob die ihn darin wieder erkennen würden? Was meinen Sie? Ist es möglich, dass er sich so beschrieben hat, dass niemand ihn wieder erkennt?«
    Das Wodkaglas klackte auf dem Marmortisch. Das Bier stellte die Bedienung auf einen Pappdeckel daneben. Den Gast beachtete sie nicht.
    »Es ist möglich«, sagte Schilff, »und niemand darf behaupten, die eine Beschreibung ist wahrer als die andere. Oder die eine ist eine Lüge und die andere nicht. Es gibt keinen Unterschied.
    Es ist alles Konzept. Jede Wirklichkeit ist inszeniert.«
    »Sie haben Interviews erfunden und Zitate gefälscht.« Süden hielt für ein paar Sekunden die Luft an. Die Schmerzen im Magen wurden nicht schwächer. »Ich habe auch über Sie gelesen, Sie sind ein größenwahnsinniger Journalist. Und jetzt haben Sie Probleme und wollen sich mit mir verbrüdern.«
    »Sie sind ein Scheißmoralapostel!«, brüllte Schilff. Und die Gespräche im Raum endeten abrupt. Nur die Kaffeemaschine brummte wie ein missglücktes Echo. »Sie sind ein blöder Beamter, der sich hinter Paragrafen und Aktenordnern versteckt! Sie glauben immer noch, dass es so was wie eine Wahrheit gibt, mein Gott, du Polizist! Das, was du für die Wahrheit hältst, ist ein Witz! Da lacht sich jeder kaputt drüber! Die nimmt doch niemand ernst, deine Wahrheit! Ich hab auf der Grenze gelebt, ich hab riskiert, dass die Leute mich für einen Verrückten halten, weil ich ihnen eine einzige Wahrheit verweigere. Sie haben mir meine Geschichten aus der Hand gerissen!«
    Er knallte den rechten Handrücken auf die Marmorplatte. Mehrere Male. Die Pflaster rissen ab.
    »Fiction und Nonfiction, das ist fließend! Wieso kapierst du das nicht? Wieso kapierst du das nicht!«
    Er hämmerte mit der Hand auf den Tisch. Der Barkeeper kam näher und gab seiner Kollegin ein Zeichen, ein Tuch zum Abwischen zu besorgen.
    »Fiction und Nonfiction sind keine getrennten Kategorien! Fuck you!«
    Er stieß einen Schrei aus. Zog die rechte Schulter hoch. Verdrehte die Hand. Und schien erst jetzt zu realisieren, was er getan hatte. Er starrte seine blutende, zitternde Hand an. Er versuchte, mit der Linken das rechte Handgelenk festzuhalten.
    Aber er schaffte es nicht. Beide Arme flackerten. Wie von Strom durchschossen.
    Süden legte ein Fünfmarkstück hin. Und verließ das Lokal.
    »Die Frau find ich ohne dich!«, brüllte ihm der Reporter hinterher, bevor der Barkeeper ein Geschirrtuch um Schilffs zappelnde Hand wickelte und die Bedienung einen Eimer und einen nassen Schwamm brachte.
    Dann bemerkte Schilff etwas Nasses an seinen Oberschenkeln.
    Und er wusste sofort, dass es nicht vom Regen kam.
    »Shame«, sagte er leise.

10
    D ie Polizei war da«, sagte Helga Grieg an der Rezeption. Sie betrieb das »Hotel Renata«.
    »Wegen mir?«
    Schilff roch den Kaffee aus der Küche. Und hatte sofort ein unbändiges Verlangen danach.
    »Sie haben einen Kerl gesucht, der hier in der Nähe einen anderen zusammengeschlagen hat. Die Beschreibung hat ziemlich auf Sie gepasst. Haben Sie wen verprügelt?«
    »Nein.«
    Er erinnerte sich tatsächlich nicht daran.
    »Ich hab gesagt, so einer wohnt hier nicht«, sagte Helga Grieg.
    Sie trug eine dicke graue Strickjacke, trotz der Wärme in dem kleinen Vorraum. Nebenan im Frühstückszimmer saßen zwei Gäste. Den einen hatte Schilff schon gesehen, er hatte wieder den billigen Anzug an und aß Rührei, das ihm von den

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