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Verzeihen

Verzeihen

Titel: Verzeihen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Ani
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Körper halb gedreht.
    Alles, was Iris hörte, war das Ticken ihrer Armbanduhr, die sie unter die Theke gelegt hatte.
    Schilff rülpste mit geschlossenem Mund. Seine Hände bluteten.
    Er betrachtete sie wie die Gliedmaßen eines Fremden. Der Fußboden war übersät mit Scherben und Bierdeckeln.
    Niemand bewegte sich. Als warteten alle vier auf ein Signal.
    Oder einen Fotografen. Oder als hätten sie ihren Text vergessen und hofften auf eine Souffleuse.
    Draußen, auf der anderen Straßenseite, fuhr ein Auto aus der Parkbucht. Für einen Augenblick huschte das Gelb der Scheinwerfer über das Fenster.
    »Und jetzt?«, sagte Iris.
    Irgendwie erleichtert wuchteten die beiden Bierfahrer ihre Körper in Richtung Tisch. Und griffen zu den Gläsern.
    »Ich wollt nie mehr in diese Stadt zurück«, sagte Schilff. Wieder ballte er die Fäuste. Hob aber die Hände nicht hoch.
    »Zu spät«, sagte Iris.
    »Jetzt hab ich deinen Namen vergessen.«
    »Ich deinen auch.«
    »Dann sind wir quitt.«
    »Noch lang nicht«, sagte sie. »Erst bezahlst du den Unfug, den du angerichtet hast.«
    Sie wollte endlich zusperren. Wenn Gäste solche Sachen erzählten, brach nachts ihre eigene Vergangenheit über sie herein. Und sie war dann zu müde sie zu vertreiben. Dann hörte sie die alten Stimmen wieder. Sah die Männer wieder, mit denen sie heute nichts mehr zu tun hatte. Und sah Ariane, die untröstlich war.
    Auf einmal hatte Iris große Angst um ihre Freundin.
    Sie ging noch einmal in die Küche. Und nahm das Telefon.
    Ariane meldete sich nicht. Nicht zu Hause. Nicht auf ihrem Handy. Voll wütender Unruhe zündete sich Iris eine Zigarette an.
    »Ich schließ jetzt«, sagte sie, als sie aus der Küche kam. In der Tür stand Tabor Süden. Er hielt Schilff an der Schulter fest, und dem Reporter tropfte der Sabber aus dem Mund.

9
    B evor sie es richtig begriff, liefen ihr Tränen über die Wangen.
    Sie stand mitten auf der Straße, direkt unter einer Straßenlampe.
    Niemand ging vorüber. Kein Auto fuhr.
    Bei fünf Männern war sie gewesen. Und keiner hatte sich gewundert. Alle bis auf einen hatten Kondome. Als hätten sie die Gummis für sie aufgespart.
    Rasch ging sie weg. Vor dem geschlossenen Eisentor eines Kinderspielplatzes blieb sie stehen. Mit einem Taschentuch wischte sie sich das Gesicht ab. Dann tippte sie eine Nummer in ihr Handy. Und kappte die Verbindung sofort wieder.
    Sie konnte Iris nicht anrufen.
    Sie kramte ihren winzigen Notizblock aus der Tasche. Hauchte den Kugelschreiber an. Setzte sich auf eine niedrige Steinmauer auf der anderen Straßenseite. Und schrieb. In Ameisenschrift. Ameisenflink.
    Ich bin die schmutzigste Frau in der ganzen Stadt. Ich stinke, denn das Wasser, mit dem ich mich gewaschen habe, hilft nicht mehr. Und wenn ich meine Beine ansehe, ekelt es mich. Und wenn ich an meinen Busen denke, sehe ich verfaultes Obst.
    Und meine Vagina ist voller widerlicher krabbelnder Käfer. Die saugen an mir und schlecken mit Zungen nach mir. Dass ich noch am Leben bin, ist ein Versehen, ich bin nicht gemeint.
    Warum habe ich das getan? Warum bin ich erst zu dem einen Mann gegangen und dann zu den anderen, ich habe Tote zum Leben erweckt. Sie waren unter der Erde, weit da unten, und ich habe sie ausgegraben. Ich bin zu ihnen gegangen, nicht sie zu mir. Ich war es, ich habe sie gewollt. Ich wollte sie doch gar nicht, ich wollte sie nicht, bitte glaub mir, glaub mir, Iris.
    Was mit mir los ist, das habe ich ihnen nicht gesagt, ich habe wenig gesprochen, wie früher. Und sie waren nicht überrascht mich zu sehen, sie haben mich genommen. Wie sie das gewohnt sind seit jeher. Ich hätte mir gewünscht, dass sie mit mir schlafen. Dass sie meinen Körper bestaunen und dass ich zum Beispiel ihre Hände zum Jubilieren bringe, nicht nur ihr Geschlecht, das ist ja einfach, das ist keine Kunst.
    So dreckig, wie ich jetzt bin, kann ich nicht zu Iris kommen. Ich habe alles zerstört. Und ich weiß nicht, wieso.
    Vielleicht hätte ich den Mann, der mich nach Hause gebracht hat, bitten sollen zu bleiben. Vielleicht habe ich den schlimmsten Fehler gemacht, den es gibt. Aber ich kenne ihn nicht.
    Warum soll ein Fremder automatisch böser sein als einer, den ich schon kenne? Das ist keine Logik. Wenn er jetzt hier wäre, würde ich ihm alles erzählen. Weil die Nacht jetzt so ist, dass man solche Dinge erzählen kann. Die Dunkelheit ist ein Verzeihen.
    Worüber ich mich wundere, ist, dass keiner kommt und mich umbringt. Dauernd werden Frauen

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