Verzeihen
Miriam Vogler. Sie ist ein Jahr jünger als ich. Wir waren im Heuschober. Sie hat sich zuerst ausgezogen. Das interessiert dich gar nicht! Du liegst bloß da mit deinen roten Haaren, die ich sehen kann, auch wenn der Verband drüber ist. Ich seh die Haare. Ich wollte dir alles beim Abendessen erzählen. Das wollte ich. Und du bist nicht nach Hause gekommen. Das ist doch alles Mist jetzt! Es hat überhaupt nicht geregnet! Die Sonne scheint! Schon seit zwei Wochen! Wieso kannst du nicht Auto fahren? Wieso bist du zu dämlich eine gerade Strecke zu fahren? Eine Strecke, die du auswendig kennst. Die kennt jeder auswendig. Da fahr ich betrunken und ohne Führerschein besser. Papa hat einen Schock. Das ist praktisch. Ich hab keinen. Ich bin hier. Was scheißegal ist. Weil du kriegst nichts mit. Der Oberarzt sagt, man kann nichts sagen. Man kann noch nichts sagen, hat er gesagt. Das sind doch alles Lügner. Die verarschen uns. Und die wissen, wir müssen uns verarschen lassen. Wir bezahlen die sogar dafür!
Er sprang auf. Und trat gegen die Tür. Und ein zweites Mal.
»Aufhören!«, rief jemand vom Flur.
Schilff trat ein drittes Mal dagegen. Und ein viertes Mal. Und ein fünftes Mal.
Er hatte versprochen zu kommen. Und er war nicht gekommen. Schon in Ordnung. Sie musste nicht einmal auf die Toilette. Und Durst hatte sie auch nicht. Hunger hatte sie auch keinen.
Samstag. Samstags machte das »Glücksstüberl« erst um siebzehn Uhr auf, nicht wie sonst um elf. Das war Iris’ Idee gewesen, gute Idee, so haben wir wenigstens einen halben Tag frei.
Vom nächsten Mai an wollte Iris einen Tag in der Woche zusperren. Am Dienstag eventuell. Montags kommen die Trinker vom Wochenende. Und die Arbeitslosen brauchen gerade am Montag ein Ziel, das ihnen vertraut ist, sagt Iris. So redet sie.
Sie spricht dann wie eine Menschenkennerin. Und das ist sie auch. Sie kannte die Männer am besten. Ich bin leichtgläubig.
Leicht gläubig. Mir kann man was vormachen, ihr nicht. Seit ich sie kenne, ist sie die Vernünftigere von uns beiden. Ich hatte vor allem Glück. Sie hat Verstand.
Es war dunkel im Badezimmer. Unter der Tür drang kein Licht herein. Kein schwacher Schein. Wie gestern. Es regnet, dachte sie. Oder es schneit. Im Finstern zu sprechen, beunruhigte sie.
Sie bildete sich dann ein, da war noch jemand außer ihr. Im Finstern war Ariane lieber allein.
Allein kommst du nicht durchs Leben, das wird nichts, sagte Iris oft. Vielleicht stimmte das. Und im Grunde war sie nicht allein, nie. Erst war ständig ihre verbiesterte Mutter in der Nähe gewesen. Später waren es die anderen Frauen. Und Enzo. Und die Kunden. Eigentlich war sie nur allein, wenn sie schlief. Und sie schlief wenig. Sie musste Geld verdienen. Sie musste anschaffen gehen. Und sie war freiwillig gegangen. Das war alles ihr Wunsch gewesen.
Das hatte sie auch zu Udo gesagt, den sie auf seinem Handy erreichte. Natürlich war er sofort einverstanden gewesen. Sie waren alle verfügbar. Als hätten sie darauf gewartet, dass sie sich endlich wieder meldete und die alten Spiele wieder begannen.
Jeder auf seine Art. Jeder nach seinen Regeln.
»Wenns besser gelaufen wär, hätt ich Pianistin werden können«, sagte sie zu Udo, nachdem sie ihn mit der Hand befriedigt hatte. Was er am liebsten mochte. Mit ihr schlafen wollte er nie. Er lud sie in eine Pension ein. Zog sich aus. Legte sich aufs Bett. Saugte an ihrem Busen. Und sie fing an zu rubbeln. Und er schnaufte und stöhnte und räkelte sich genüsslich.
»Du kannst Klavier spielen?«, fragte er.
»Jetzt nicht mehr«, sagte sie, »früher…«
»Es ist also schlecht gelaufen«, sagte Udo Küsters.
»Was?«
»Du hast gesagt: Wenns besser gelaufen wär…«
»Das mein ich nicht so. Aber ich hätt Pianistin werden können, ich hab Talent. Aber Disziplin hab ich nicht.«
Sie sah Udo vor sich. Wie er sich ausstreckte und die Hände auf dem Bauch faltete, sein Geschlecht in einem enormen blonden Gestrüpp.
»Oder Sängerin«, sagte sie. »Ich kann ganz gut singen, ich hab mal einen Playbackwettbewerb gewonnen, als junges Mädchen. Ich kann richtig singen, nicht, dass du denkst, ich bluff nur…«
»Du bluffst nicht, das weiß ich«, murmelte er.
»Ich kann ›Mr. Tambourine Man‹ singen. Zwei Strophen. Die, die die… die Band damals gesungen hat…«
»Die Byrds.«
»Was? Ja. Soll ich dir noch einen blasen oder sollen wir gehen?«
Sie mochte es nicht, belehrt zu werden.
Niemals wär ich Pianistin geworden.
Weitere Kostenlose Bücher