Verzweifelte Jahre
Wieso?« »Ich find ihn nicht, seit ihr aus Ungarn zurück seid. Ich hab alles durchsucht gestern am Abend. Ist er noch bei dir ?« »Der ist...« Der Rest ging im Rattern der Straßenbahn unter, die neben uns vorbeifuhr. »Was?« »In der Tasche von ihrem Anorak. Links! In der linken Jackentasche!« Die Autoschlange setzte sich in Bewegung.
Das Mädchen saß still auf seinem Platz. Nicht dass sie der Unterricht sonst so fesselte, aber jetzt konnte sie sich überhaupt nicht konzentrieren. Sie war immer noch auf dem Schulweg. Ging den Rennbahnweg entlang. Auch da war sie schon in Gedanken gewesen. Aber anders. Sie setzte einfach einen Fuß vor den anderen, die Schultasche auf ihrem Rücken kippte leicht von einer Schulter zur anderen. Sie sah kaum vom Gehsteig auf. Bis die Bäume größer wurden. Sie wusste nicht, warum sie plötzlich aufgeschaut hatte. Genau auf diesen weißen Lieferwagen da vorne. Auf das Mädchen, das genauso dahinschlenderte wie sie. Den Mann, der sie aufhielt. Der sie packte. In den Wagen zerrte. Die Tür zuknallte und wegfuhr.
Das Läuten der Pausenglocke vertrieb die Bilder in ihrem Kopf. Aber nicht ganz. Ich muss es der Lehrerin sagen, dachte sie.
»... und dann hat er sie gepackt, in den Wagen gezerrt, die Tür zugeknallt und ist weggefahren .« Die Lehrerin tätschelte ihren Rücken: »Du denkst dir viel zu viele Geschichten aus. Du musst nicht jede erzählen .«
Es gab wieder einmal kaum Parkplätze. Ab vier am Nachmittag kommt die ganze Rennbahnweg-Siedlung nach Hause, da muss man Glück haben. Eine Lücke war noch frei. Ich schaute auf die Uhr. Genau richtig. Natascha geht um vier vom Hort weg, sie wird gleich kommen.
Die Katzen begrüßten mich im Vorzimmer. Ich ging in die Küche und holte das Futter aus dem Regal. Sie saßen vor mir und beobachteten mich. Dann stürzten sie sich auf ihre Schüsseln. Sie fraßen schnell, sie waren den ganzen Tag allein gewesen. Ich setzte mich an den Esstisch und beobachtete sie. Ich zündete mir eine Zigarette an.
Ich überlegte, was ich kochen sollte. Bei der Gelegenheit fiel mir der Koch ein. Ist mir auch schon länger nicht passiert. Seit fast vier Jahren sind wir getrennt und kein einziges Mal ist er mir irgendwo über den Weg gerannt. Einfach so. Und dann steht er neben mir vor einer roten Ampel. Ich dämpfte die Zigarette aus. Bin neugierig, ob der Pass wirklich im Anorak ist. Hoffentlich ist er noch drin, wenn sie heimkommt. Ich schaute wieder auf die Uhr. Halb fünf. Wo bleibt sie eigentlich?
»Tante Joesi?« Die Stimme hatte ähnlich geklungen, aber es arbeiten ja mehr Tanten im Hort. »Nicht da? Ja, ich ruf später noch einmal an .« Wann später? Es war schon fünf.
Ich legte auf und wählte die nächste Nummer. Jürgens Kinder gingen in den Kindergarten gleich hinter dem Hort. Vielleicht wusste er was. »Nein? Du hast sie nicht gesehen? Danke .«
Der Hort ist in der Oswald-Redlich-Straße. Kubinplatz. Rennbahnweg. Über die Wagramer Straße. Durch die Siedlung. Keine zwanzig Minuten Weg. Ich rief noch einmal im Hort an.
»Ah, Tante Joesi, Gott sei Dank. Ist die Natascha noch bei Ihnen ?« Mit dem Nein hatte ich nicht gerechnet. »Wo ist sie dann ?... Natürlich war sie in der Schule... Wer sagt? ... Die Conny? Die Conny sagt, sie war heute überhaupt nicht in der Schule ?« Um Gottes willen. Da ist was passiert. Im Vorbeigehen nahm ich die Jacke vom Haken und rannte zum Lift. Er kam eine Ewigkeit nicht daher. Er brauchte endlos für die sieben Stockwerke. Das Wachzimmer gleich am Rennbahnweg war hundert Kilometer weit weg. Ich riss die Tür auf. »Ist irgendwo was passiert? Ist ein Unfall gemeldet worden? Meine Tochter... « Der Beamte reagierte gelassen, aber nicht unhöflich. »Beruhigen Sie sich, ich schau gleich. Um was geht’s denn eigentlich ?« »Meine Tochter... sie ist nicht vom Hort heimgekommen... die sagen, sie war gar nicht in der Schule... da muss was passiert sein !... Haben Sie nicht...« »Langsam. Wie heißen Sie, und wie heißt die Tochter ?« »Brigitta Sirny. Und meine Tochter heißt Natascha. Natascha Kampusch.« Der Beamte blätterte in seinen Unterlagen und schüttelte den Kopf. »Da haben wir nichts .« »Und was soll ich jetzt tun ?« »Sie warten einmal. Die wird schon kommen. Und wenn nicht, dann machen S’ eine Abgängigkeitsanzeige. Aber nicht bei uns.« »Sondern?« »Im Kommissariat. Schrödingerplatz.« Es klang wie eine Verabschiedung. Man braucht fünf Minuten vom Wachzimmer zur Stiege 38. Ich
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