Vierter Stock Herbsthaus (German Edition)
ist nicht mehr sie selbst, das ist nicht mehr meine Paula. Ich schiebe mich an der Wand entlang, Stück für Stück Richtung Ausgang. Aber sie durchschaut meine Absicht, macht drei Schritte zur Seite und blockiert die Tür.
„Paula … bitte … lass uns reden.“
Sie lehnt sich mit dem Rücken gegen die Zimmertür und grinst mich böse an. Sie stinkt nach Schweiß … und sie sieht krank aus.
„Halt dein Maul, Fotze.“
Wir stehen uns gegenüber, nur drei Meter voneinander entfernt in dem verwüsteten Zimmer. Überall liegen die Fußleisten verstreut, Fetzen der Tapete hängen von den Wänden. Was hat sie da in der Hand?
„Du kannst einfach keine Ruhe geben, du dummes Stück Dreck.“
„Paula, bitte lass uns reden. Wir sind ein Paar, wir sind seit Jahren zusammen. Weißt du noch, wie wir uns kennen gelernt haben? Ich hatte diese rote Jacke an und du hast gesagt, dass ich dir aufgefallen bin, weil du die Jacke so hässlich gefunden hast. Und später dann warst du sauer, weil ich die Jacke verschenkt habe und … ja, wir wollen doch zusammen noch nach Amerika fahren, uns ein Auto mieten und-“
„Verschon' mich mit dem Scheiß“, unterbricht mich Paula. Jetzt sehe ich, was sie da in der Hand hält. Es ist ihr Schlüsselbund. Sie packt ihn sich so in die Faust, dass zwischen ihren Fingern die Schlüssel raus stehen … drei metallene Stacheln. Ich höre mich brüllen:
„WILLST DU MICH JETZT ZUSAMMENSCHLAGEN ODER WAS?“
Sie betrachtet grinsend ihre Faust mit den Stacheln … und ich drücke meinen schmalen Rücken gegen die Wand. Vielleicht hat ja Frau Diehl den Lärm gehört, vielleicht ruft sie die Polizei. Vielleicht kann ich mich ja auch irgendwie durch die Wand hindurch in die Wohnung der alten Frau drücken, weg von dieser Verrückten. Meine Molekülstruktur müsste sich nur irgendwie … und wenn ich aus dem Fenster springe? Da unten sind Büsche, wenn ich auf so einem Busch lande, dann habe ich vielleicht eine Chance. Ich müsste nur genau zielen und…
„Den ersten holen die Wölfe, den zweiten holt der Bär, den dritten holt der Jäger, mit dem Schießgewehr.”
Fast muss ich lachen, als ich das höre.
„Mein Gott Paula, komm doch zu dir! Das hat auch der Herr Schlechter gesagt, der Typ, der sich umbringen wollte. Das kommt von ihr, das ist irgendein Kinderreim von ihr und ihrer Schwester. Sie bringt Leute dazu, sich was anzutun … sie ist böse, du darfst ihr nicht zuhören, bitte hör ihr nicht zu. Erinnere dich doch an unsere guten Zeiten, an die ganzen Sachen, die wir schon zusammen gemacht haben. Ich bin es doch, Lena, deine Freundin.“
Paula reckt das Kinn, macht sich gerade. Das böse Grinsen ist verschwunden, da ist überhaupt nichts mehr in diesem Gesicht. Und dann macht sie einen Schritt auf mich zu, packt mich mit der Linken hart an der Schulter und holt mit der Rechten aus. Instinktiv nehme ich die Hände vors Gesicht, schütze meine Augen, drehe gleichzeitig den Oberkörper weg. Und doch erwischt sie mich, ich spüre den brennenden Schmerz auf meinem Schädel, auf meiner Stirn, über meinem rechten Auge. Ganz erstaunt höre ich mich flüstern:
„Paula, was tust du denn? Das kannst du doch nicht machen.“
Und dann läuft mir Blut ins Auge, mein Blick färbt sich erst rot und dann grau. Jetzt werden die Beine weich, wo sind die Knochen hin? Femur, Tibia … und Fibula … ich weiß nicht, wieso mir plötzlich die lateinischen Bezeichnungen einfallen. Femur … Oberschenkelknochen … längster Knochen des Menschen … Röhrenknochen … große Markhöhle. Mein Hirn hat den Anschluss verpasst … es weigert sich ganz einfach, das zu akzeptieren, was hier vor sich geht. Warmes Blut läuft mir in die Augen und ich gehe die Fachbezeichnungen irgendwelcher Knochen durch. Welcher war noch gleich der kleinste? Ach ja, Stapes … Steigbügel, eines der drei …
Bevor mir schwarz vor Augen wird, sehe ich noch Paulas erschrockenen Gesichtsausdruck. Was hast du getan, mein Schatz? Was hast du deiner kleinen Freundin getan? Arme Paula, was hast du nur … Ich gehe in die Knie und stütze mich mit den Händen auf dem staubigen, mit gesplittertem Holz übersäten Boden ab.
Dann kommt die Nacht, der Faden reißt. Das Nächste, was ich bewusst erlebe, ist das Weinen und Schreien von Frau Diehl. Immer noch sind wir in dem verwüsteten Zimmer, ich, Paula und jetzt auch die alte Frau. Ich richte mich auf und versuche, den Kopf nach oben zu bekommen. Und immer, wenn ich ihn ein bisschen
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