Virus (German Edition)
Vergangenheit zu vergessen. Wieso
musste sie all die traurigen Erinnerungen zurückbringen? Wieso konnte sie ihn
nicht einfach in Ruhe lassen?
Die Antwort war einfach und
zeugte von Egoismus. Um ihr eigenes Gewissen zu erleichtern, hatte die Mörderin
seiner Frau ihn aufgesucht. Es würde nicht geschehen.
Plötzlich spürte Holger, wie
jemand seine Hand ergriff, und er erinnerte sich, dass Debbie ihm gegenüber
saß. Er blickte in ihr Gesicht, in ihre wunderschönen blauen Augen und er sah
seine Zukunft in ihnen, eine Zukunft ohne den Hass, der die letzten zwei Jahre
seines Lebens aufgefressen hatte.
Welches gute Werk hatte Hass auf
dieser Welt je vollbracht? Wozu hatte er je gedient? Er war geeignet, Seelen zu
zerfressen und Leben zu zerstören. Er hatte die Kraft, Kriege zu entfachen und
Tod zu säen. Holger wollte nicht mehr hassen. Er wollte, dass wieder Glück an
die Stelle seines Herzens trat, an der sich in den letzten zwei Jahren Hass
breit gemacht hatte.
Konnte er denn überhaupt sicher
sagen, dass die Motive der jungen Frau egoistischen Ursprungs waren? War es
möglich, dass sie es ernst meinte? Er erinnerte sich an Debbies Worte zurück, als
sie zum ersten Mal gemeinsam in ihrer Zelle gesessen hatten.
Ich glaube,
dass du hier derjenige bist, der etwas zu verarbeiten hat.
Sie hatte Recht gehabt. Er durfte
nicht einfach vergessen, er musste verarbeiten. Und die Mörderin seiner Frau
hatte den Mut aufgebracht, ihm gegenüberzutreten, um ihm dabei zu helfen.
Konnte er sie dafür verurteilen? Sollten nicht Liebe und Vergebung die
Wegweiser zu seinem neuen Leben sein? Ganz gleich ob gläubig oder nicht waren
dies die Attribute, die einer Seele Erfüllung versprachen.
Hatte diese junge Frau nach dem
Unfall nicht sogar noch gewartet, ihm helfen wollen, und war erst von den für
ihre Brutalität im Umgang mit Demonstranten berüchtigten italienischen Carabinieri verjagt worden? Natalias Tod hatte ihrer beider Leben in den letzten beiden
Jahren zerstört. Hier nun stand er vor der Wahl. Er konnte dafür sorgen, dass ihr
Gewissen ihrem Leben auch weiterhin jegliche Freude entzog, was im
Umkehrschluss bedeuten würde, dass auch er Natalias Tod nie würde verarbeiten
können. Oder er konnte vergeben und somit gleich zwei Leben auf einmal retten.
Er nickte der jungen Frau leise
zu und lächelte sanft. „Mir tut es auch leid”, sagte er dann.
Er blickte sie an und nahm wahr,
wie die Traurigkeit ihrer Augen langsam einem leisen Strahlen wich, einem
Funkeln, das von einem immer stärker werdenden Tränenfluss genährt wurde.
„Danke”, sagte sie schließlich,
nachdem sie ihm lange in die Augen geblickt hatte, drehte sich um und ging.
Holger sah ihr gedankenverloren nach, während er spürte, wie Debbie seine Hand
drückte. In der Mitte des Marktplatzes, auf dem Rand des Brunnens sitzend wartete
ein kräftiger Mann mit kahlrasiertem Schädel auf die junge Italienerin. Zwei
vollgepackte Reisetaschen standen neben ihm.
Sie gab ihm einen Kuss, griff
nach ihrer Tasche und Händchen haltend verließen die beiden den Petersdammer
Marktplatz, ohne die Globalisierungsgegner vor dem Dorfkrug auch nur eines
Blickes zu würdigen.
Holger sah Debbie in die Augen
und sie lächelte ihn an.
„Ist es vorbei?“ fragte sie.
„Es wird nie vorbei sein“,
erwiderte er langsam. „Aber ich werde damit leben können.“
Ein langes Schweigen folgte, doch
schließlich beschloss Holger, der Vergangenheit wenigstens die Chance
einzuräumen, zur Ruhe zu kommen und in die Zukunft zu blicken.
„Ich glaube, Driver könnte Recht
gehabt haben“, sagte er irgendwann. „Somniak war vielleicht nur ausführendes
Organ einer mächtigen Organisation. Vielleicht eines Kults.“
Debbie blickte überrascht auf.
„Wieso meinst du?“
„Alleine die Mengen an Geld, über
die er verfügt hat. Und für alles haben wir auch noch keine Erklärung gefunden.
Ich denke, Vieles deutet darauf hin.“
„Ich denke, darüber können wir
uns später auch noch Gedanken machen“, erwiderte Debbie. „Im Moment bin ich
einfach nur froh, dass das Morden vorüber ist.“ Sie machte eine kurze Pause,
bevor sie das Thema wechselte. „Weißt du, was ich mir überlegt habe?“
„Was?”
„Vielleicht würde dir ein
Ortswechsel guttun.“
„Hm“, machte Holger. Er zuckte
mit den Schultern und lächelte sanft. „Minneapolis soll sehr schön sein, habe
ich gehört.”
Samstag, 12. Mai 2007
Epilog 1
Seit zweiundzwanzig Jahren war Hermann
Wolter
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