Virus (German Edition)
seine abwegige Theorie zu? Sie würde es bald erfahren.
Wie in Trance, von Adrenalin und
dem Rauschen des Bluts in ihren Ohren nahezu betäubt, sah sie, wie die
Kanzlerin am Ende des roten Teppichs einen italienischen Kollegen
verabschiedete. Ein nahe stehender Polizist gab Debbie ein Zeichen, ihren Gang
anzutreten. So ungefähr musste sich Jesus gefühlt haben.
Mit wackeligen Knien setzte sie
Fuß auf den edlen Läufer. Warum nur musste sie ausgerechnet in diesem
Augenblick, da sie sich sowieso schon kaum auf den Beinen halten konnte, auch
noch hochhackige Schuhe tragen? Weil man der deutschen Kanzlerin nicht in
Tennisschuhen und Kapuzenpulli gegenübertrat. Ganz einfach.
Etwa fünfzig Meter würde sie
zurückzulegen haben – wenn sie es bis zur Kanzlerin schaffte. Sie zweifelte
schwer daran, doch wacker setzte sie einen Fuß vor den anderen. Nach etwa zehn
Metern erreichte sie das Spalier aus Reitern.
Die apokalyptischen
Reiter! fuhr es ihr durch den Kopf.
Als sie die Mitte des Teppichs
erreichte, ertönte plötzlich wie aus dem Nichts der fatale Posaunenton, den sie
inzwischen bereits dreimal gehört hatte. Stets hatte er Tod mit sich gebracht. Ihre
Knie gaben kurz nach, und sie fragte sich, wie sie es geschafft hatte, sich
aufrecht zu halten, ohne hinzufallen. Egal.
Viel wichtiger war die Tatsache,
dass außer dem Ton nichts weiter geschah. Angstvoll und verhohlen schielte sie
in die Gesichter der Pferde, die ruhig den roten Teppich säumten, von dem
Posaunenton absolut unbeirrt.
–––––
Ungläubig starrte Jo Somniak auf
den Bildschirm. Was er sah, war völlig unmöglich, ausgeschlossen. Es lag nicht
im Ermessen der Tiere, durchzugehen oder nicht. Sie hatten keine Wahl, sie
waren konditioniert. Wie konnten sie den Posaunenton ignorieren?
Er rieb sich die Augen und
starrte erneut auf den Bildschirm. Zur Hölle mit dem Pokerface – es wäre nun
sowieso zu spät für den Pfarrer, einzugreifen. Doch auch als er die Augen
erneut öffnete, hatte sich an dem Bild nichts geändert. Noch immer schritt
Ashcroft, begleitet von dem Posaunenton, dem konditionierten Reiz, durch das
Spalier der konditionierten Pferde auf die Kanzlerin zu. Einzig die
konditionierte Reaktion der Tiere blieb aus.
Unmöglich. Seine Wahrnehmung
musste ihm einen Streich spielen. Es sei denn…
Ein plötzlicher Gedanke schoss
ihm durch den Kopf und er wandte sich langsam und von plötzlicher Angst
übermannt zu Petersen um. Er fürchtete den Gesichtsausdruck des Pfarrers und
als er ihn schließlich sah, wusste er, dass er verloren hatte.
–––––
Holger lächelte. Er hatte Somniak
die ganze Zeit lang beobachtet, doch ein Zeichen, wie sich der Mordmechanismus
gestaltete, hatte er nicht ausmachen können. Es spielte keine Rolle mehr. Die
heftige Reaktion des Killers auf das Ausbleiben des antizipierten Ereignisses
zeigte ihm, dass er mit seiner abwegigen Idee richtig gelegen hatte. Somniak
hatte die Pferde konditioniert, das Heer der apokalyptischen Reiter.
„Ihr habt die Pferde ausgetauscht”,
zischte der Killer mit unverhohlenem Hass in der Stimme. „Ihr habt die Pferde
durch eine komplett andere Staffel ersetzt.”
„Sie sind ein sehr verständiger
Mann”, erwiderte Holger cool. „Meine Wertschätzung.”
„Es war der Wille Gottes!”
brüllte Somniak mit manisch wirkenden, aus ihren zugeschwollenen Höhlen tretenden
Augen, während er von seinem Stuhl aufsprang. Sein von Blutergüssen übersätes
Gesicht hatte eine dunkellila Färbung angenommen und seine Halsschlagader trat
pochend hervor. „Ihr habt euch dem Willen des Herrn widersetzt!”
Mit einem Satz war der hünenhafte
Polizist von seinem Posten an der Tür bei Somniak, drehte ihm die auf dem
Rücken gefesselten Arme zwischen die Schulterblätter und drückte sein
gefoltertes Gesicht gegen die Wand.
„Dafür wird Gott euch bestrafen”,
zwängte der Killer schwer atmend aus seinem gegen die Wand gequetschten Mund
hervor. „Seine Rache wird fürchterlich sein.”
„Kleiner Tipp fürs nächste Mal”,
erwiderte Holger ruhig, „drohen Sie einem Atheisten nicht mit der Rache Gottes.
Verfehlt seine Wirkung irgendwie. Denken Sie mal drüber nach.”
130.
Eine gute Stunde nach der
Zeremonie saß Holger mit Debbie in der Außenbewirtung der ‚Kleinen Taverne’ auf
dem Petersdammer Marktplatz und genoss die Maisonne. Unmittelbar, nachdem er
den Verhörraum verlassen hatte, war er nach Petersdamm gefahren und hatte
Debbie aufgelesen. Sollten das BKA
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