Virus
Das einzige, was ihr im Augenblick einfiel, war: zu dem von Ralph genannten Anwalt zu gehen und ihm ihren Verdacht mitzuteilen, daß nämlich eine kleine Gruppe rechtslastiger Ärzte Ebola-Viren in Privatkliniken verbreitete, um so das Vertrauen der Öffentlichkeit in die private Krankenversicherung zu erschüttern. Sie würde ihm von dem wenigen, was sie an Argumenten dafür vorbringen und nachweisen konnte, berichten und es ihm überlassen, sich um weiteres Beweismaterial zu bemühen. Vielleicht konnte er ihr sogar ein sicheres Plätzchen verschaffen, um sich dort zu verstecken, bis die Dinge geklärt wären.
Sie legte den Apfel wieder hin und griff zum Telefon. Nachdem sie eine Entscheidung getroffen hatten, fühlte sie sich bereits ein Stück besser. Sie wählte Ralphs Praxisnummer und war angenehm davon überrascht, daß ihr Anruf diesmal sofort durchgestellt wurde.
»Ich habe meiner Sekretärin inzwischen entsprechende Anweisungen gegeben«, erläuterte Ralph. »Falls Sie es nicht wissen sollten – ich mache mir wirklich Sorgen um Sie!«
»Sie sind einfach herzig«, antwortete Marissa und war von Ralphs Anteilnahme plötzlich gerührt. Das unterstrich, wie sehr sie bisher ihre Gefühle unter Kontrolle gehalten hatte. Einen Augenblick lang fühlte sie sich wie ein kleines Kind, das, wenn es hingefallen ist, erst dann schreit, wenn es die Mutter sieht.
»Kommen Sie heute nach Hause?«
»Das kommt darauf an«, meinte Marissa, biß sich auf die Lippen und holte tief Luft. »Meinen Sie, daß ich mich noch heute mit diesem Anwalt unterhalten kann?« Ihre Stimme war unsicher.
»Nein«, sagte Ralph. »Ich telefonierte heute früh mit seiner Kanzlei, und man sagte mir dort, daß er auswärts sei, aber morgen zurückerwartet werde.«
»Das ist aber ärgerlich«, gab Marissa zurück, und ihre Stimme begann zu zittern.
»Marissa, fühlen Sie sich soweit wohl?« fragte Ralph.
»Na ja, es ging mir schon besser«, bekannte Marissa. »Ich habe einiges mitgemacht.«
»Was ist denn vorgefallen?«
»Das kann ich jetzt nicht erzählen«, sagte Marissa in dem sicheren Bewußtsein, daß sie in Tränen ausbrechen würde, wenn sie jetzt berichten müßte.
»Hören Sie mir zu«, sagte Ralph. »Ich möchte wirklich, daß Sie jetzt sofort hierherkommen. Ich hatte Ihnen doch vorher ausdrücklich davon abgeraten, nach New York zu fliegen. Sind Sie wieder Dubchek in die Quere gekommen?«
»Schlimmer als das«, bekannte Marissa.
»Na, das sollte doch dann wohl reichen«, sagte Ralph. »Nehmen Sie den nächstmöglichen Heimflug, ich hole Sie am Flugplatz ab.«
Die Vorstellung daran war tatsächlich sehr verlockend, und sie wollte das gerade bekennen, als es an der Tür klopfte. Marissa fuhr zusammen.
Das Klopfen wurde wiederholt.
»Marissa, sind Sie noch dran?«
»Einen Augenblick, bitte«, sagte Marissa in den Hörer. »Da ist gerade jemand an der Tür. Bleiben Sie bitte am Apparat.«
Sie legte den Hörer auf das Nachttischchen und ging zögernd zur Tür. »Wer ist denn da?«
»Ich habe hier etwas abzugeben für Miß Kendrick!« Marissa öffnete die Tür einen Spalt, ließ aber die Sicherheitskette eingehängt. Ein uniformierter Hoteldiener stand vor der Tür, ein großes, in weißes Papier eingeschlagenes Paket auf dem Arm. Nervös bat sie den Mann, einen Augenblick zu warten, und ging zum Telefon zurück. Sie sagte Ralph, daß gerade jemand etwas für sie abgeben wolle und daß sie ihn wieder anrufen werde, sobald sie wisse, welchen Flug sie am Abend für die Rückreise nach Atlanta buchen könne.
»Versprochen?« fragte Ralph.
»Versprochen!« antwortete Marissa.
Sie kehrte zur Tür zurück und warf einen mißtrauischen Blick in den Gang hinaus. Der Hoteldiener lehnte mit dem Paket an der gegenüberliegenden Wand; es sah nach einem eingeschlagenen Blumenstrauß aus. Wer jedoch sollte »Miß Kendrick« hierher Blumen schicken, wenn diese, soweit Marissa wußte, friedlich an der Westküste lebte?
Sie ging wieder zum Telefon und fragte beim Empfang nach, ob Blumen für sie abgegeben worden seien. Man bestätigte ihr das – ja, man hätte sie ihr gerade nach oben geschickt.
Marissa war etwas beruhigter, aber keineswegs soweit, daß sie gewagt hätte, die Sicherheitskette abzunehmen. Statt dessen bat sie durch den Türspalt hindurch den Hoteldiener: »Es tut mir leid, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, die Blumen vor die Tür zu legen? Ich hole sie dann herein.«
»Aber bitte, gnädige Frau«, sagte der Mann,
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