Herr Palomar
Herr Palomar am Strand
Versuch, eine Welle zu lesen
Das Meer ist leicht gekräuselt, kleine Wellen schwappen ans sandige Ufer. Herr Palomar steht am Ufer und betrachtet eine Welle. Nicht daß er sinnend in die Betrachtung der Wellen versunken wäre. Er ist nicht versunken, denn er weiß, was er tut: Er will eine Welle betrachten, und er betrachtet sie. Er ist auch nicht sinnend, denn zur Besinnlichkeit braucht man ein passendes Temperament, eine passende Stimmungslage und ein Zusammenwirken passender äußerer Umstände, und obwohl Herr Palomar im Prinzip nichts gegen Besinnlichkeit hat, ist im Augenblick keine dieser Bedingungen für ihn gegeben. Schließlich sind es auch nicht »die Wellen«, was er betrachten will, sondern nur eine einzelne Welle und weiter nichts. Im Bestreben, die vagen Gefühle nach Möglichkeit zu vermeiden, nimmt er sich für jede seiner Handlungen einen begrenzten und klar umrissenen Gegenstand vor.
Herr Palomar sieht eine Welle in der Entfernung auftauchen, sieht sie wachsen und näherkommen, sich in Form und Farbe verändern, sich überschlagen, zusammenbrechen, verströmen und rückwärtsfließend verebben. Er könnte sich also nun einreden, die gewünschte Operation beendet zu haben, und weitergehen. Doch eine Welle herauszulösen, indem man sie trennt von der unmittelbar folgenden Welle, die sie vorwärtszudrängen scheint und bisweilen einholt und überspült, ist sehr schwierig – ebenso schwierig, wie sie von der Welle zu trennen, die ihr unmittelbar vorausläuft und sie hinter sich her ans Ufer zu ziehen scheint, bis sie dann schließlich gleichsam gegen sie kehrt macht, wie um sie aufzuhalten. Betrachtet man ferner die Welle in ihrer Breite, als Front parallel zum Verlauf der Küste, so ist es schwierig, genau zu bestimmen, bis wohin die näherkommende Front sich kontinuierlich erstreckt und wo sie beginnt, sich zu teilen und auseinanderzufallen in eigenständige Wellen mit unterschiedlicher Schnelligkeit, Stärke, Gestalt und Richtung.
Kurzum, man kann eine Welle nicht isoliert betrachten, ohne dabei die vielfältigen Aspekte mit einzubeziehen, die zu ihrer Bildung zusammenwirken, desgleichen die ebenso vielfältigen, die sie von sich aus bewirkt. Und diese Aspekte verändern sich ständig, weshalb eine Welle jedesmal anders ist als eine andere; gleichwohl ist freilich nicht zu bestreiten, daß jede Welle stets einer anderen gleicht, wenn auch nur einer, die ihr nicht unmittelbar vorausläuft oder unmittelbar folgt. Kurzum, es gibt Formen und Abfolgen, die sich, wenn auch in unregelmäßiger Verteilung über Raum und Zeit, wiederholen. Da nun Herr Palomar im Moment nichts anderes zu tun gedenkt, als eine Welle einfach zu sehen, das heißt ihre simultanen Bestandteile allesamt zu erfassen, ohne auch nur den geringsten davon zu vernachlässigen, wird sein Blick so lange auf der Bewegung des Wassers ruhen, das er ans Ufer schwappen sieht, wie er Aspekte zu registrieren vermag, die ihm zuvor noch entgangen waren. Sobald er dann feststellt, daß die Bilder sich wiederholen, weiß er, daß er nun alles gesehen hat, was er sehen wollte, und kann aufhören.
Als nervöser Zeitgenosse, Bewohner einer hektischen und überfüllten Welt, neigt Herr Palomar zur Beschränkung seiner Kontakte mit der Außenwelt, und im Bestreben, sich vor der allgemeinen Neurotik zu schützen, sucht er seine Gefühle so gut er kann unter Kontrolle zu halten.
Der Buckel des näherkommenden Wellenberges hebt sich an einer Stelle höher als anderswo, und das ist der Augenblick, da er weiß zu schäumen beginnt. Geschieht dies in einer gewissen Entfernung vom Ufer, so bleibt dem Schaum noch genügend Zeit, sich aufschäumend gleichsam in sich selbst zu verhüllen und wie verschluckt zu verschwinden und im gleichen Moment wieder alles zu überfluten, diesmal aber von unten aufsteigend, wie ein Teppich, der sich den Strand hinaufschiebt, um die anrollende Welle zu empfangen. Doch erwartet man nun, daß die Welle sich auf den Teppich wälzt, so stellt man auf einmal fest, daß keine Welle mehr da ist, sondern nur noch der Teppich, und auch der verschwindet im Nu, verwandelt sich in ein Glitzern von nassem Sand, das rasch zurückweicht, wie verdrängt von der Expansion des trockenen bleichen Sandes, der seine wellige Grenze voranschiebt.
Zur gleichen Zeit muß man die Knicke der Front ins Auge fassen, die Stellen, an denen die Welle sich in zwei Flügel teilt, deren einer von rechts nach links zum Ufer
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