Virus
zum Knie geschlitzten langen roten Seidengewand trat auf sie zu und sagte, das Restaurant sei noch nicht geöffnet. »In einer halben Stunde!« fügte sie hinzu.
»Darf ich bitte trotzdem einmal Ihre Toilette und Ihr Telefon benutzen?« fragte Marissa.
Die Frau musterte Marissa einen Augenblick, fand dann offenbar, daß sie vertrauenswürdig sei, und führte sie in den hinteren Teil des Restaurants. Dort öffnete sie eine Tür und trat zur Seite.
Marissa sah sich in einem kleinen Raum mit einem Waschbecken an der einen Seite und einem Münztelefon an der anderen. An der Rückwand befanden sich zwei Türen mit der Aufschrift »Damen« und »Herren«. Die Wände waren mit Kritzeleien bedeckt, die sich wohl über Jahre hinweg angesammelt hatten.
Marissa benutzte zunächst das Telefon. Sie rief im Fairmont an und sagte der Telefonistin, in Zimmer 1127 sei ein Mann, der dringend ärztliche Hilfe und einen Krankenwagen benötige. Die Telefonistin bat sie dranzubleiben, aber Marissa legte auf. Dann dachte sie ein Weilchen darüber nach, ob sie jetzt die Polizei anrufen und ihr alles sagen sollte. Schließlich aber fand sie, das sei viel zu kompliziert. Außerdem war sie ja ohnehin bereits vom Tatort geflohen. Es war sicher gescheiter, nach Atlanta zurückzufliegen und mit dem Anwalt zu reden.
Während sie sich die Hände wusch, betrachtete sich Marissa im Spiegel. Sie fand, daß sie wirklich fürchterlich aussah. Sie nahm den Kamm aus der Handtasche, kämmte zunächst ihr wirres Haar und flocht sich dann Zöpfe, um es wenigstens aus dem Gesicht zu haben. Ihre Haarspange hatte sie verloren, als der blonde Mann sie an den Haaren gepackt hatte. Als sie damit fertig war, strich sie ihre Jacke und das Oberteil ihrer Bluse glatt. Das war alles, was sie im Augenblick tun konnte.
*
Jake wählte zum hundertsten Mal Georges Wagen an. Meist war überhaupt keine Antwort erfolgt, und ein paarmal war die Auskunft gekommen, der angewählte Teilnehmer sei derzeit nicht erreichbar.
Er konnte sich nicht vorstellen, was los war. Al und George mußten doch längst wieder in dem Wagen sein. Jake war dem Mädchen gefolgt, und es hätte nicht viel gefehlt, daß er in sie hineingefahren wäre, als sie so plötzlich aus der Straßenbahn gesprungen war. Er hatte beobachtet, wie sie in dem Restaurant »Pekingküche« verschwunden war – wenigstens hatte er sie nicht verloren.
Er ließ sich im Fahrersitz zusammensinken. Das Mädchen war gerade herausgekommen und winkte einem vorbeifahrenden Taxi.
Eine Stunde später mußte Jake hilflos zusehen, wie Marissa ihre Bordkarte abgab und das Flugzeug der Delta zu einem Nonstopflug nach Atlanta bestieg. Er hatte zwar daran gedacht, sich auch selbst einen Flugschein zu kaufen, die Idee aber wegen Als fehlender Zustimmung verworfen. Die letzte halbe Stunde hatte sie sich im Waschraum für Damen eingeschlossen und damit Jake Gelegenheit gegeben, es mindestens noch zehnmal zu versuchen, telefonisch durchzukommen, um neue Anweisungen zu erhalten. Aber immer noch meldete sich niemand. Sobald das Flugzeug die Startbahn hinunterrollte, hastete Jake zu seinem Wagen zurück. Unter dem Scheibenwischer hing ein Strafzettel, aber er kümmerte sich einen Dreck darum. Immerhin war er nicht abgeschleppt worden! Beim Einsteigen entschied er sich dafür, zum Fairmont zurückzufahren und zu versuchen, dort irgendwie die anderen zu erreichen. Vielleicht war die ganze Geschichte schon abgeblasen worden, und er würde die beiden fröhlich an der Bar finden, wo sie sich über ihn kranklachten, während er wie ein Blöder in der ganzen Stadt herumfuhr.
Als er wieder auf der Schnellstraße war, unternahm er einen letzten Versuch mit dem Telefon. Zu seiner Überraschung meldete George sich diesmal.
»Wo zum Teufel hast du denn gesteckt?« fragte Jake. »Während des ganzen Vormittags habe ich dich zu erreichen versucht, verdammt noch mal!«
»Es hat da ein gewisses Problem gegeben«, sagte George gedrückt.
»Ich hoffe beim Teufel wirklich, daß irgend etwas Besonderes los war«, gab Jake zurück. »Das Mädchen ist in einem Flugzeug nach Atlanta. Ich bin bald verrückt geworden – ich wußte, verdammt noch mal, wirklich nicht, was ich tun sollte.«
»Al ist niedergestochen worden, ich nehme an, von dem Mädchen. Man hat ihn ins Krankenhaus gebracht, wo er operiert werden muß. Ich kann nicht in seine Nähe.«
»Um Christi willen!« sagte Jake ungläubig – er konnte sich nicht vorstellen, daß das zierliche
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