Der Clan der Vampire (Venedig 1 & 2)
1
Venedig, Italien – Anfang 1800
Raphael di Santori hätte nie gedacht, dass sein Leben so enden würde. Anhand eines Pfahls durch sein Herz oder von der Sonne zu Asche verbrannt, ja, aber doch nicht durch Ertrinken! Nicht, dass nicht viele Vampire genau diese Angst hatten: Ihre Körperzellen waren so dicht und fest, dass ihre Körper viel schwerer als Wasser waren und daher wie Steine sanken.
Und genau das war ihm zugestoßen. Einen Augenblick nur war er am Kanal entlang gewandert und nun fand er sich in dessen eiskalter Tiefe wieder. Er konnte rudern und versuchen zu schwimmen soviel er wollte, sein Gewicht zog ihn trotz seiner Bemühungen unter Wasser. All seine Kraft arbeitete gegen ihn.
Es gab nichts, woran er sich hochziehen oder festhalten konnte. Der Kanal war von venezianischen Häusern gesäumt, die keinerlei Vorsprünge, keine Docks und auch keine Eingangstüren an der Wasserseite hatten, die hauptsächlich für Lieferungen benutzt wurden und in den größeren Häusern der reichen Kaufleute üblich waren. Die Gebäude, die diesen schmalen, unbedeutenden, jedoch tiefen Kanal im Labyrinth von Venedig säumten, verfügten nicht über solchen Luxus. Die Bewohner betraten die Häuser von den Straßen aus, von Straßen, durch die er früher am Abend geschlendert war.
Der Lärm der Einwohner, die den Karneval feierten, trieb, gedämpft durch das Wasser in seinen Ohren, zu ihm. Selbst wenn er schrie, würde ihn niemand hören. Sie waren zu betrunken, um Notiz von ihm zu nehmen. Das war einer der Gründe, warum er trotz der großen Anzahl von Menschen durch die Straßen gestreift war. In dem Gewühl von Betrunkenen gab es mehr als ein paar Häppchen, die zur Beute werden würden, mehr als ein paar saftige Hälse, an denen er schlemmen konnte, ohne entdeckt zu werden.
Das ganze Jahr über hatte er darauf geachtet, nicht auf Beutezug zu gehen, wenn auf den Straßen viel los war und immer sicherzustellen, dass sich seine Opfer nicht an die Geschehnisse erinnern konnten. Nur während des Karnevals, wenn Masken das perfekte Accessoire zu jedem Kleidungsstück waren, sättigte er sich an dem reichhaltigen Buffet von Menschen.
War er diesmal zu leichtsinnig gewesen? Hatte ihn jemand gesehen? Er glaubte, eine Hand an seinem Rücken gespürt zu haben, die ihn in den Kanal gestoßen hatte. War es lediglich ein Missgeschick eines betrunkenen Passanten gewesen oder eine vorsätzliche Handlung von jemandem, der über ihn Bescheid wusste? Hatten die Hüter des Heiligen Wassers ihn schließlich doch eingeholt?
Die Hüter – er und seine Brüder fürchteten sie. Niemand wusste, wie die geheime Gesellschaft von Kaufleuten und Adligen entstanden war. Doch während der letzten hundert Jahre seines Lebens hatte er mitansehen müssen, wie ihnen mehr und mehr Vampire zum Opfer gefallen waren. Viele seiner Freunde waren eines Nachts verschwunden und niemand hatte je wieder von ihnen gehört. Sie waren entweder durch einen Pflock im Herzen gestorben oder ertrunken, so wie er ertrinken würde.
Hatte die Hand, die er kurz auf seinem Rücken gespürt hatte, einem der geheimnisvollen Hüter gehört? Geheimnisvoll, da trotz aller Nachforschungen, die er und andere Vampire durchgeführt hatten, sie niemals mehr als ein Symbol entdecken konnten: ein Kreuz, das mit drei Wellen durchzogen war. Seinen Brüdern war es ein einziges Mal gelungen, ein Mitglied der Hüter des Heiligen Wassers gefangen zu nehmen. Aber dieser hatte ihnen nicht viel mehr als seinen Namen und das Symbol, das er auf einem schwarzen Onyxring trug, offenbart, bevor er in den Tod geflüchtet war und das Geheimnis mit ins Grab genommen hatte.
Steckten die Hüter auch hinter seinem Schicksalsschlag? Hatte einer von ihnen ihn ins Wasser gestoßen, wohl wissend, dass er ertrinken würde? Aber das spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr. In ein paar Minuten würde er tot sein, sein unsterbliches Leben für immer vorbei. Er würde auf dem Boden des Kanals verrotten. Sein Körper würde nicht wie andere Wasserleichen irgendwann an die Oberfläche steigen, denn selbst während er verweste, würde die Dichte seiner Zellen und Knochen dafür sorgen, dass kein Teil seines Körpers jemals den Grund des Kanals verließ.
Raphael dachte über sein langes Leben nach, länger, als ein Mensch sich je gewünscht haben könnte. Er ließ seinen Bruder Dante zurück. Aber es gab keine Frau, die ihn liebte oder eine Träne um ihn weinen würde. Sein Leben war leer. Mit einem letzten
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