Vita Nuova
Tote entdeckt hat, ist sie gleich wieder davongestürzt.«
»Hat sie denn nicht einmal nachgeschaut, ob ihre Schwester wirklich tot war?«
»Hat sie nicht, zumindest hat sie das so ausgesagt.«
»Und? Sagt sie die Wahrheit?«
»Ich denke schon. Hier draußen gibt es keine Blutspuren, es wäre aber ziemlich schwierig gewesen, in das Zimmer zu gelangen, ohne in Blut zu treten.«
»Aha, dann wissen wir also nicht, ob irgendwas gestohlen wurde, oder?«
»Richtig, mit Gewissheit können wir das jetzt noch nicht sagen, aber es gibt keine Anzeichen, dass der Turm nach Wertgegenständen durchsucht worden ist.«
»Echte Profis haben es schon lange nicht mehr nötig, Wohnungen zu durchsuchen. Diebstähle in solchen Villen sind meist sorgfältig geplant, und oft genug steckt ein Auftraggeber dahinter. Manchmal haben sie es nur auf ganz bestimmte Sachen abgesehen.«
»Ja schon …«
»Aber?« Der Staatsanwalt musterte Guarnaccia angriffslustig. Der Selbstmord, der keiner gewesen war, war längst passé … und außerdem hatte der Maresciallo ja recht behalten! »Normalerweise müssen wir uns dann aber nicht um derlei Hinterlassenschaften kümmern …«
Die ›Hinterlassenschaft‹ war der Leichnam, der gerade in einen Metallsarg gehoben wurde. Ein weicher, weißer Morgenmantel, der ein wenig offenstand, stämmige, nackte Beine, blondes, offenes Haar.
Mit einem Nicken stimmte der Staatsanwalt dem Abtransport der Leiche zu, und wieder mussten sie auf dem Treppenabsatz zurücktreten, als der Sarg nach draußen gebracht wurde.
»Professor Forlis Assistent …«, der Maresciallo tastete nach dem Notizbuch in der Brusttasche des blauen Hemds, »hat, von der Körpertemperatur ausgehend, als ungefähre Todeszeit neun Uhr morgens genannt. Keine Totenstarre, keine Leichenflecken. Der Mörder hat so lange gewartet, bis –«
»Ja, ja, danke. Wenn ich den vollständigen Bericht habe, dann … Was ist mit der Familie?«
Der Maresciallo blätterte zurück.
»Die Schwester der Toten, Silvana Paoletti, lebt mit ihren Eltern in der Villa. Sie ist hergekommen, um Piero, ihren Neffen, abzuholen. Piero ist drei Jahre alt. Sie wollte ihn um Viertel nach acht in den Sommerhort bringen, weil seine Mutter, das Opfer, arbeiten musste. Silvana hat den Jungen im Hort abgeliefert, ein paar Erledigungen in der Stadt gemacht und ist dann hierher zurückgekommen. Beim Anblick ihrer toten Schwester ist sie schreiend geflüchtet.«
»Warum hat das Mädchen Sie angerufen und nicht einfach den Notruf der Polizei?«
»Sie war es ja gar nicht, die angerufen hat. Silvana ist nach draußen auf die Straße gerannt und hat geschrien wie am Spieß. Die Nachbarin von gegenüber hat gerade Blumen gegossen und das Mädchen in ihr Haus gebracht. Dann hat sie mich angerufen, wir kennen uns. Das war um zehn Uhr siebenunddreißig. Anschließend ist sie mit Silvana wieder hierher und hat mit ihr zusammen auf mich gewartet, denn das Mädchen war völlig außer sich. Die beiden sind aber nicht wieder nach hier oben gegangen.«
»Und wer, bitte schön, ist diese Bekannte von Ihnen?« Mit einer kurzen, unverhohlenen Musterung von Kopf bis Fuß gab der Staatsanwalt Guarnaccia deutlich zu verstehen, welche Art Bekannte seiner Ansicht nach ein Mensch wie er in dieser Gegend nur haben konnte. »Ist sie Angestellte dort?« Das Haus auf der anderen Straßenseite war etwas kleiner als die Villa und wahrscheinlich gerade mal knapp hundert Jahre alt, dennoch war es ein eindrucksvolles, herrschaftliches Gebäude.
»Nein, keine Angestellte …« Guarnaccia stopfte das Notizbuch in die Tasche zurück und schloss bedächtig den Knopf. »Sie ist die Hausherrin.« Er machte sich nicht die Mühe, dem Staatsanwalt zu erläutern, dass er der Frau damals geholfen hatte, als ihr Sohn den Wehrdienst bei den Carabinieri ableisten wollte, denn er schämte sich ein wenig. Er saß nun wirklich nicht mit Leuten an einem Tisch, die sich ein Haus in einer der kostspieligsten Gegenden von Florenz leisten konnten. Ganz im Gegenteil, im Augenblick saß er mit gar niemand an einem Tisch. Seine Laune sank unter den Gefrierpunkt, als er an den Abend dachte, den er wohl wieder allein verbringen würde.
»Und die Mutter?«
»Sie steht ganz offensichtlich unter Schock. Ihr Mann hatte einen leichten Schlaganfall und liegt im Krankenhaus. Und jetzt auch noch das … Sie hat tief und fest geschlafen, als Silvana mit der Nachbarin kam, um ihr von dem Unglück zu erzählen. Selbst als ich hier eintraf,
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