Vita Nuova
1
Maresciallo Guarnaccia stand am Rand des Swimmingpools: Die dunklen Gläser einer Sonnenbrille schützten seine Augen vor dem gleißenden Licht der tiefstehenden Sonne. Ein großes, gelbes Blatt dümpelte einsam auf der blauen Wasseroberfläche. Unter seinen Schuhsohlen klebten ebenfalls ein paar nasse Blätter. Die schwüle Wärme fühlte sich nach September an, aber das oberste Blatt seines Taschenkalenders zeigte erst den neunzehnten August. Guarnaccia kehrte dem Swimmingpool und damit auch dem gegenüberliegenden, steinernen Turm den Rücken zu und senkte den Blick. Kein Geräusch drang hier oben an seine Ohren, obwohl die roten Dächer und die marmornen Türme von Florenz direkt unter ihm lagen. An normalen Tagen musste der Verkehrslärm, der dort unten tobte, auch hier oben deutlich zu hören sein – wenn auch nur gedämpft. Doch im August war die Stadt, abgesehen von den Touristen, so gut wie ausgestorben. Der Swimmingpool lag am äußeren Rande der Hügelkuppe, und wer den Kopf aus dem Wasser streckte, blickte direkt auf die Kuppel des Doms, die Kirchturmspitze und den endlos blauen Himmel. Ganz schön beeindruckend. Das kühle Nass allerdings konnte den Maresciallo nicht locken, da konnte es so heiß sein, wie es wollte. Eigentlich konnte er diesem Anwesen hier oben nichts Besonderes abgewinnen, auch wenn es eine schicke Extravaganz ausstrahlte. Ihm gefiel es hier nicht … diese Stille, dieses gleißende Licht kaum Schatten. Guarnaccia drehte sich noch einmal um und starrte über das Becken hinweg zu dem Turm hinüber, zu dessen Füßen zwei cremefarbene Liegestühle mit Blick zum Pool aufgestellt waren. Ein Sonnenschirm, ebenfalls cremefarben, spendete einem Tisch und ein paar Stühlen Schatten.
Eigentlich sollte sich hier anstelle des offenen, blau glitzernden Pools ein hübscher Obstgarten befinden oder vielleicht auch ein Weingarten. Die aufsteigende Sonne brannte durch das blaue Hemd hindurch sengend auf seine Schulter. Der Maresciallo trat einen Schritt zurück, suchte Schatten.
Von den beiden Frauen war nur die junge, hübsche in lautstarkes, verzweifeltes Wehklagen ausgebrochen. Sie ließ den Tränen freien Lauf und wrang die feuchten Taschentücher in den Händen. Die Mutter war stumm geblieben. Der Schock vielleicht. Aufrecht saß sie auf dem Küchenstuhl, das Gesicht gerötet, der Blick eher glasig als den Tränen nahe, Schweißperlen auf der Stirn. Mit keiner Geste versuchte sie ihre Tochter zu trösten, blieb einfach nur stumm und reglos sitzen. Die Küche war sehr groß und mit allerlei modernem Firlefanz ausgestattet, aber sie befand sich in einem Kellerraum mit hochgesetzten, kleinen Fenstern. Auf Guarnaccia wirkte dieser Raum ausgesprochen beklemmend und düster. Deswegen verabschiedete er sich auch recht bald mit der Entschuldigung, den Staatsanwalt empfangen zu müssen, und zog sich erleichtert nach draußen zurück. Der Garten lag ebenso ruhig und friedlich da wie der Pool. Ein großes, gelbes Blatt segelte nach unten und verfing sich in einer Hemdepaulette. Der Maresciallo wischte es herunter. Ihm war viel zu warm. Wenn es doch nur schon September wäre! Bei dem Gedanken, dass er von nun an den herrlichen Duft des Herbstlaubes mit verwesenden Leichen in Verbindung bringen würde, drehte sich ihm der Magen um. Blödsinn, nichts als Blödsinn! Zum einen befand sich da noch immer der Pool mit dem gechlorten Wasser vor dem Turm mit den offen stehenden Türen, und zum anderen lag die tote Frau im zweiten Stock. Unmöglich, dass der Verwesungsgeruch bis zu ihm drang. Dennoch hielt Guarnaccia den Atem bewusst flach. Irgendwie steckte ihm der Geruch noch immer in der Nase. Er konnte zurück in die Küche, zögerte aber wegen der beklemmenden Atmosphäre dort, oder vielleicht war es ja auch dieser undefinierbare, unangenehme Geruch, der ihn davon abhielt. Nichts, was greifbar gewesen wäre. Diese Leute rochen nach Geld, viel Geld. Der Vater in einer Privatklinik, die älteste Tochter tot, wahrscheinlich ermordet, ein Enkelkind, jetzt Vollwaise; die andere Tochter steigerte sich in ein lautstarkes Lamento, und weit und breit kein Staatsanwalt in Sicht. Wo zum Teufel steckte der bloß? Wo immer er auch wohnte, im August gab es keine Verkehrsstaus, nirgendwo. Der Maresciallo marschierte um den Pool herum, machte kehrt, als er die Ecke des Turmes erreicht hatte, und zockelte dann zurück zu dem hohen, mit Eisenbeschlägen verzierten Haupttor. Die Villa war eines dieser jahrhundertealten,
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