Volle Drehzahl: Mit Haltung an die Spitze (German Edition)
ich vom Schicksal hineingestoßen worden war. Das Leben im Heim hatte sehr bald einen schwierigen Menschen aus mir gemacht. Aggression, Sonderschule,schwer erziehbar: Es sah nicht gut aus für mich und es kam noch schlimmer. Ich wurde ins nächste Heim abgeschoben. Sie schickten mich aufs Land, möglicherweise sogar in ein geschlossenes Heim, so genau weiß ich das nicht mehr. Auf jeden Fall war die Schule in das Heim integriert und hier wurde mehr Wert auf Disziplin gelegt. Ich fühlte mich eingesperrt. Ich erinnere mich an das frühe Aufstehen, an das Milchholen beim Bauern, an die Tiere, die wir pflegen mussten. Pferde, Esel, Kühe – nie zuvor hatte ich Verantwortung gehabt für ein Tier. Diese neue Erfahrung begann, mir Spaß zu machen, die Tiere trösteten mich über den Verlust meiner Familie hinweg. Meine Geschwister waren für mich nicht greif bar, unser bisschen Familie war auseinandergerissen worden, um einen besseren Menschen aus mir zu machen. Nur wenige Abschnitte meiner Heimkarriere kann ich mit einem bestimmten Alter verbinden, zu viele Erlebnisse und Vorkommnisse musste ich verdrängen, damit ich sie später endgültig vergessen konnte.
Ich muss zu dieser Zeit etwa neun Jahre alt gewesen sein in diesem Heim auf dem Land, das ich als Gefängnis empfand. An die großen Pakete meiner Geschwister kann ich mich erinnern, sie waren ein Lebenszeichen. Ein kleiner Beweis von Zuneigung, aufgesaugt wie von einem trockenen Schwamm, denn Zuneigung bekam ich als Heimkind sowieso immer zu wenig. Wo aber Liebe und Schutz der Eltern und Geschwister fehlen, beginnst du in dieser Umgebung reflexartig, Misstrauen aufzubauen. Mir fiel auf, dass der Inhalt der Pakete immer kleiner wurde. Große Kartons mit meinem Namen darauf, aber von Mal zu Mal mit weniger Inhalt. Ich wurde misstrauisch. Als meine Schwester Carola eines Tages zu Besuch kam und mich fragte, ob ich denn Spaß gehabt hätte mit den Geschenken, wurde mir klar, dass ich bestohlen wordenwar. Ich will heute nicht behaupten, dass es Erzieher waren, die mir das kleine bisschen Glück meines bescheidenen Lebens aus den Paketen gestohlen haben, doch mein Verhältnis zu Autoritäten war endgültig zerrüttet. Mein junges Leben war geprägt von diesen Zwischenfällen und immer war ich der Verlierer. Auch als ich später mit einem Lehrer aneinandergeriet. Mich hatte sein Befehlston gestört und ich war nicht bereit, alles zu glauben, was er uns zu vermitteln versuchte. »Wo steht das denn geschrieben?«, wollte ich wissen. »Warum wirst du frech?«, fragte er zurück. »Ich bin überhaupt nicht frech. Ich will nur wissen, wo das geschrieben steht«, beharrte ich auf meinem Standpunkt. »Das geht dich nichts an. Du verlässt sofort das Klassenzimmer«, forderte er mich auf. Ich weigerte mich, den Raum zu verlassen. Da kam der Lehrer, packte mich und versuchte, mich aus dem Klassenzimmer hinauszuziehen. Ich wurde wütend. Wie viel Ungerechtigkeit musste ich noch ertragen? Ohne lange über mein Handeln nachzudenken, wehrte ich mich. Dabei ist der Lehrer ein paar Mal unsanft auf den Boden gefallen. Die Strafe ließ auch dieses Mal nicht lange auf sich warten. Wieder wurde ich weggesperrt, wieder musste ich ein paar Tage alleine in ein Zimmer. Doch als so schlecht empfand ich diese Einzelhaft nicht. Hier herrschte Ruhe und ich konnte mich sicher fühlen vor den Schlägen und Provokationen der Älteren. Der Stärkste war ich damals noch nicht, also musste ich vorsichtig sein.
Zu den Tagen meiner Kindheit, an die ich mich deutlicher erinnern kann, gehört das Auflehnen gegen Lehrer, Erzieher und Ungerechtigkeiten, gegen die sinnlosen Befehle sogenannter Autoritäten. Eines Abends saßen wir beim Essen; wir Kinder wie immer an beiden Seiten einer länglichen Tafel, am Kopfende ein dicker Typ, unser Erzieher.Ich mochte ihn nicht, denn er hatte immer mehr zu essen als wir. Hier soll nicht etwa der Eindruck entstehen, dass ich zu allen Erziehern ein gestörtes Verhältnis pflegte. Ich habe in meiner langjährigen Heimkarriere auch viele respektable Menschen kennengelernt, die Großartiges geleistet haben. Frauen, die mit Kindern umzugehen verstanden, allen Überlastungen zum Trotz. Aber dieser dicke Typ, der da an unserer Tafel saß, ließ uns spüren, dass es ihm besser ging. Der Dicke bekam, anders als wir, Wurst und Käse aus der Küche. Damit belegte er seine großen Scheiben Brot. Uns blieb die Wahl zwischen Butter, Zucker und Salz, manchmal gab es auch Marmelade. Wir
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